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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-1-006-1
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Werk Bearb. ⇧ 1. Th.
Artikel: AACHEN ... Reichsstadt
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
Siehe auch: HIS-Data Aa
Hinweise: Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Bearbeitung
Inhalt:
⇦ AACHEN. Regierungsbezirk
Aachener Bäder ⇨

⇧ S. 6 Sp. 2    
  AACHEN, (lat. Aquisgranum, fr. Aix la Chapelle) vormalige freie Reichsstadt, Westfäl. Kreises, seit dem 22. September 1793 von den Franzosen besetzt, und durch den Tractat von Lüneville mit Frankreich definitiv vereinigt (Hauptort des Roer-Departements); seit Januar 1814 durch die Truppen der verbündeten Mächte besetzt; unterm 5. April 1815 mit dem Preußischen Staate definitiv vereinigt, seit dem 10. März. 1814 bis zum 12. April 1816 Sitz des General Gouvernements für den Nieder- und Mittel-Rhein; gegenwärtig der Hauptort des Regierungsbezirks gleiches {1} Namens.
  1) Lage, Umfang, Bevölkerung und Fabriken. Aachen, (50° 47' 8" N. B. und 3° 44' 57" d. L. von dem Observatorium zu Paris (n. Tranchot), hat eine schöne und angenehme Lage. Sanfte, mit Waldungen bedeckte Hügel erheben sich in einem ausgedehnten Kreise um die Stadt. Überdieß dehnen sich schöne Anlagen um einen bedeutenden Theil derselben aus, (vom Adalberts- bis zum Mastrichter-Thor), die von Jahr zu Jahr erweitert werden. In einem sehr beträchtlichen Umfange enthält Aachen gegenwärtig (1817) {2} nur 2823 Häuser (worunter 2750 bewohnbare) mit einer Bevölkerung von 32,015 Einwohnern, 31,287 katholische,
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  614 evangelische beider Conf. und 114 Juden. Sie zählt 20 Kirchen, worunter 8 Parochial-Kirchen und l Cathedrale. — Von den berühmten Bädern der Stadt folgt ein besonderer Artikel.
  Die bedeutendsten Fabriken sind die Tuch- und Nadelfabriken. Seit dem Ablauf des 17. Jahrh. wurden die zu Aachen fabricirten Tücher, zuerst besonders auf den deutschen Messen zu Braunschweig, Leipzig und Frankfurt a. M. immer mehr gesucht. Die Aachner Fabrikanten wußten sich eine besondere Geschicklichkeit anzueignen, die spanische Wolle {3} mit der sächsischen, schlesischen, böhmischen und ungarischen, der Güte und Feinheit der Waare unbeschadet, zu vermischen. Dabei gelang es ihnen immer mehr ihre Färbereien zu vervollkommnen, so daß ihre Fabrikate bald an Güte der Arbeit und Schönheit der Farbe mit den Engl. wetteiferten. Die Nähe der Niederlande, aus welchen das s. g. Calza-Öl und die schwarze Seife mit geringen Kosten bezogen wurden, wohlfeiles Brennmaterial, welches die nahe bei der Stadt liegenden Kohlengruben reichlich lieferten, eine Menge Arbeiter, welche theils die Stadt selbst, theils die umliegenden, von der Natur für den Ackerbau weniger begünstigten Gegenden darboten, waren eben so viele Vorzüge, welche den Flor der Fabriken begünstigten. Hiezu kam die Nacheiferung, welche das Beispiel talentvoller, und betriebsamer Fabrikanten, wie Clermond, Clauß u. s. w. rege machte, ihr Fleiß, die Erfahrung, welche sich vom Vater auf den Sohn fortpflanzte, die glückliche Einfachheit des häuslichem Lebens; und als sich zu allen diesen Vortheilen noch außerordentlich günstige politische Conjuncturen; während der französischen Verfassung gesellten, bedurfte es fast der Ermunterungen nicht mehr, durch welche die Regirung die Fabrikanten anspornte, ihren Anlagen immer mehr Ausdehnung und ihren Fabrikaten immer höhere Vollkommenheit zu geben, um den Wohlstand vieler Fabrikbesitzer so fest zu gründen, daß sie die Ausschließung von den meisten europäischen Märkten aushalten konnten ohne zu unterliegen. Trauriger war der Einfluß veränderter Handelsverhältnisse auf das Loos so manches jüngeren Fabrikanten, dessen Anlage erst mit den letzten günstigen Jahren entstanden war. — Man rechnet übrigens jetzt noch 30 Tuchfabriken mit Maschinen-Spinnerei von 12,200 Spinnern. —♦ {3} korrigiert aus: Walle
  Mehr als die Tuchfabriken haben die Näh- und Stecknadelfabriken unter den veränderten politischen Verhältnissen sich auf einem so glücklichen Standpunkte behauptet, daß man ihr jährliches Produkt immer noch gegen 2 Millionen Franken schätzt. Man zählt gegenwärtig 11 Nadelfabriken, von denen die von Leonard Startz, Nicolaus Startz und Springsfeld die ausgedehntesten sind. Die Aachner Nadeln kommen an Feinheit und Politur den Englischen völlig gleich, der dazu erfoderliche Stahldraht wird vorzüglich aus Altena bezogen. Die erste Stecknadelfabrik, nach Art der zu Walderneß in England früher gegründeten Anlagen, legte zu Aachen der um diesen Zweig der Industrie so verdiente Laurenz Jecker, aus dem Ober-Elsaß in Gemeinschaft mit den Gebr. Migeon an; sie besteht gegenwärtig unter der Firma Gebr. Migeon und Schervier, und neben ihr ist noch die von Pyr zu bemerken. —♦
  Außerdem hat A. 3 Berlinerblaufabriken, 1 Siegellack-, u. 1 Spielkartenfabrik.
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  2) Geschichte von Aachen. *) Über die erste Entstehung der Stadt liefert die Geschichte keine sichern Nachrichten. Das Aachner Gebiet gehörte zu dem Landstriche, welchen die Eburonen, ein germanischer zwischen Rhein und Maas verbreiteter, Völkerstamm bewohnten. Cäsar überwältigte sie bei dem Schlosse Varula, unweit des jetzigen Aachner Gebiets. Es ist indeß nicht gewiß, daß die Römer das jetzige s. g. Aachner Gebiet schon wirklich bewohnt fanden. Gewiß ist, daß die Grundlage der Stadt in die Zeiten ihrer ersten Kaiser fällt, und daß die noch jetzt so berühmten warmen Bäder den Römern nicht unbekannt blieben. —♦ ⇧ Inhalt
  Der lateinische Name Aquisgranum — aus aquae Grani (I.) unregelmäßig gebildet, deutet auf das Daseyn Aachens in der römischen Periode hin, und die in den spätern Zeiten aufgefundenen Denkmäler haben dasselbe noch mehr außer Zweifel gesetzt. Über die Person des Stifters (Granus, Granius) sind die Annalisten zwar nicht einig, indem mehrere schon einem von Nero exilirten Granus die Gründung Aachens beilegen. Mehr Wahrscheinlichkeit spricht für Severus Granius, Legaten des Kaisers Adrianus in Belgien, der ums Jahr 125 n. Chr. die Stadt gegründet haben soll. —
  Die erste Anlegung der Bäder setzt man unter Kaiser Alexander Severus. —♦
  Aus der Periode der Fränkischen Könige, Merovingischen Stammes, sind ebenfalls nur wenig sichere Nachrichten vorhanden. Schon Klodwig soll in Aachen einen Reichstag gehalten haben, auf welchem der Anhang zu den 58 Salischen Gesetzen bekannt gemacht wurde. —♦
  Theodorich erwählte im J. 514 nebst Metz auch Aachen zu seiner Residenz. Siegbrecht III. nennt Aachen in einer Urkunde vom J. 643 seinen Hauptpalast. Das Jahrhundert zwischen Siegbrecht und Pipin III., bildet eine neue Lücke. Erst ums Jahr 754 geschieht des Aufenthalts von Pipin in Aachen Erwähnung. Die Kriege Pipins mit den Longobarden und Sachsen entfernten ihn bald wieder bis zum Jahre 765. Mit dem Zeitalter Karls des Großen steigt die politische Wichtigkeit der Stadt; die Nachrichten über ihre Schicksale werden, sicherer und vollständiger. Daß Karl der Gr. am 2. April 742 zu Aachen geboren worden, ist zwar nicht unbestritten geblieben; indeß haben sich doch ungleich mehr Stimmen für Aachen entschieden, als für Karlsberg (in Oberbayern), Ingelheim, Juppile (b. Lüttich) u. m. a. O. Nach der Krönung zu Noyon an der Oise (768) begab sich Karl nach Aachen; welches von jetzt an vorzugsweise sein Aufenthaltsort in Friedenszeiten wurde. Hier errichtete er sich einen Palast, über welchen Eginhard die Aufsicht führte; er erbaute ein Rathhaus, den zum Theil noch jetzt vorhandenen Dom, und mehrere Bäder. Von Aachen aus erließ Karl seit 788 die mehrsten seiner Capitularien. Dort vereinigte er Eginhard, Riculf, P. von Pisa, Paul Warnefried, Paullin von Aquileja u. m. a. Gelehrte Italiens, Englands, Schottlands etc. unter der Aufsicht Alcuins zu einer Anstalt der freien Künste, an deren Arbeiten er selbst leb-
 
  • *) S. Meyer’s, K. F., Aachensche Geschichten. Mühlheim a. Rh. 1781. Fol. Dorsch Statistique du dép. de la Roer. (1803) ― Golbery considerations sur le dép. de la Roër (1811). ― van Alpen Geschichte des fränkischen Rheinufers 1802. (2 Bde).
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  haften Antheil nahm; und die mehrsten seiner erhabnen Plane für Verfassung, Gesetzgebung und Erweiterung der Cultur seines ausgedehnten Reichs faßte Karl in dieser merkwürdigen Stadt. Unter Karls schwachen Nachfolgern wurden zu Aachen die Verleihungen von Gütern und Geschenken an Stifter und Abteien, die Ertheilung von Privilegien aller Art besonders häufig. Unter Karls des Dicken Regirung ward Aachen durch die Normänner verwüstet (881), die Kronkirche und der Palast werden des größten Theils der darin aufbewahrten Schätze beraubt. Nur wenige Heiligthümer und Kostbarkeiten wurden nach Maynz geflüchtet. —♦
  Während der unruhigen Kaiserwahlen stieg Aachens Ansehen immer höher; das Krönungs-Ceremoniel in A. schien in den Augen des Volks der Wahl eine noch größere Gesetzmäßigkeit zu geben.
  Die Vorzüge, die Aachen unter den Karolingern genoß, zogen Handwerker und Künstler aller Art in diese Stadt; die Bevölkerung stieg und in dem sich bald bildenden Städtebund nahm Aachen eine der ersten Stellen ein. —♦
  Besonders entscheidend aber wirkte auf die glänzende Stellung, welche Aachen als Krönungsort bis auf Ferdinand I. behauptete (813 —1558), die Regirung der Ottonen. Otto III. ließ im J. 1000 das Grab Karls des Gr. öffnen; man nahm den s. g. königl. Stuhl, das am Halse des entseelten Kaisers befindliche Kreuz, die Krone, den Scepter, den Reichsapfel, das Schwert und das Evangelienbuch heraus, welche Stücke (die Reichsinsignien) Otto kurz vor seinem Tode dem Erzbischof Heribert von Cöln übergab (vgl. Reichsinsignien*). —♦
  Nach den Verheerungen der Normänner wurde im J. 1146 durch eine Feuersbrunst die Stadt aufs Neue verwüstet. Unglücksfälle der letzteren Art sind seitdem noch oft der Stadt verderblich geworden, namentlich in den J. 1224, 1236, besonders aber im J. 1636 (d. 2. Mai) wo zum sechsten Mal der größte Theil der Stadt ein Raub der Flammen wurde. Man zählte an 4000 eingeäscherte Häuser, worunter die Hauptkirche, die Bäder und zwanzig Klöster.
  Andere Schicksale der Stadt; besonders der neuern Zeit, werden unter der folgenden Rubrik ihre Stelle finden.
  3) Bürgerliche Verfassung von Aachen. Schon Karl der Gr. verordnete für die Stadt einen Rath, an dessen Spitze Bürgermeister gestellt wurden, eine Einrichtung, die andere teutsche Städte erst unter den Sächsischen und Schwäbischen Kaisern erhielten. Indeß beschränkten sich die Einrichtungen Karls fast nur auf die bürgerliche Gesetzgebung. Für Aachen waren, seiner Lage nach, die Ripuarischen Gesetze zunächst bindend. Dabei bildete sich durch Brauch und Gewohnheit manches besondere Recht, so daß, als unter Otto II. die Städte besondere Weichbilder erhielten, sich das Aachensche Stadtrecht schon wesentlich von dem gemeinen Recht unterschied. Dieses Stadtrecht wurde von Friedrich. I. 1166 mittelst Diploms feierlich bestätigt.
⇧ Inhalt
 
  • *) Noch verdienen in allgemein politischer Beziehung erwähnt zu werden die Kirchenversammlungen, welche unter den Karolingern zu Aachen Statt hatten, und zwei Friedensschlüsse, s. die folgenden Art. Aachner Friedensschlüsse und Kirchenversammlungen.
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  Weniger ruhig, als sich die bürgerliche Verfassung entwickelte, war der Gang der Verwaltung, die, nebst der kirchlichen Trennung, zu vielfachen gewaltsamen Bewegungen Anlaß gab. —♦
  Bis zur Errichtung des Gaffel- (Zunftverfassungs- ) Briefs (1450) lag die Verwaltung in den Händen eines Erbraths. Schon waren mannigfache Reibungen zwischen Volk und Magistrat vorangegangen, als im J. 1450 bei der Wahl des Peter von Jüris zum Bürgermeister, eine ernstliche Bewegung erfolgte, welche nicht nur die Vernichtung der Wahl, sondern auch den bereits gedachten Gaffelbrief herbeiführte. Der Rath verzichtete auf das bisher behauptete Erbrecht; eine wechselnde Regirung sollte nun eintreten. —♦
  Die wenige Sorgfalt, mit welcher man die Bestimmungen des Gaffelbriefs beachtete, blieb nicht ungestraft. Im Febr. 1513 wurde der Brief von den versammelten Gaffeln (Zunftvorstehern) wieder hervorgesucht; es bildete sich ein neuer Rath aus ihrer Mitte; mehrere der alten Rathsglieder wählten das Exil. Ihre Beschwerden beim Kaiser Maximilian führten zu weitläuftigen Unterhandlungen, die bei dem Tode des Kaisers noch zu keinem Resultat geführt hatten. —♦
  Fast ein Jahrhundert hindurch wurde nun auch Aachen der Schauplatz innerer Unruhen, welche die Kirchentrennung weit und breit veranlaßte. Die verbesserte Lehre fand auch hier zahlreiche und eifrige Anhänger, die man vergeblich durch schreckende Beispiele, wie das der Hinrichtung mehrerer Bürger (1535), zu unterdrücken bemüht war. Wie nachdrücklich aber auch die Erklärung des Schmalkaldischen Bundes und des Herzogs von Cleve an die Stadt war: so blieb doch, selbst nach dem Passauer Vertrag und dem Augsburger Religionsfrieden, die Lage der Protestanten immer gefährdet. Durch die Aufnahme mehrerer nach Aachen geflüchteter französischer und brabantischer Familien bis zu zwei Gemeinden verstärkt, und durch glückliche Industrie, gewannen diese Selbstvertrauen genug, um gleiche Rechte mit so vielen ihrer Glaubensgenossen jenseit des Rheins zu behaupten. Allein das Ohr des Kaisers blieb ihnen verschlossen. Die Festigkeit, mit welcher sie ihre Ansprüche verfolgten, führte die Reichsacht herbey, deren Vollziehung dem Kurfürsten Ernst von Cöln übertragen wurde (1598). Der größte Theil der Protestanten floh; ihre Güter wurden eingezogen, die Wenigen, welche blieben, mußten ihren Aufenthalt durch schwere Geldbußen erkaufen. —♦
  So dauerte der Unfriede der Unterdrückten unter den Regierungen Ferdinands und Rudolphs im Stillen fort, bis die Nähe Protestantischer Hilfsvölker in dem Jülichschen Successionskriege; den Protestanten Muth gab, noch einen Kampf für die verlornen Freiheiten zu wagen, als der Stadtrath ihnen mit geschärfter Strenge den Besuch des Gottesdienstes außerhalb der Stadt untersagen wollte. Ihr Unternehmen schien anfangs zu gelingen; und vielleicht wären, bei mehrerer Mäßigung, ihre Bestrebungen nach freier Religionsübung gelungen. Allein Ausbrüche heftiger Leidenschaft, durch die bisher von der katholischen Partei erlittenen harten Bedrückungen erregt, konnten nicht zur Einigung führen, auch schadete gewiß die Politik der als Vermittler aufgetretenen Fürsten der guten Sache mehr, als sie dieselben förderte. Bis zum August 1614 behauptete die protestantische Partei die Oberhand.
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  Jetzt aber bemächtigte sich der Spanische General Spinola der Stadt durch ein zahlreiches Heer, das Kalkbrenner, der Anführer der protestantischen Partei, vergebens zu bekämpfen suchte; der protestantische Rath wurde ab-, ein neu gebildeter katholischer eingesetzt. Tausende der verwiesenen Anhänger der neuen Lehre ergriffen die Flucht. —♦
  Neue Verfolgungen hatten im J. 1616 statt; alle, die man für Protestanten hielt, wurden gefangen gesetzt; 174 entflohen den Ketten, die übrigen verloren Güter und Leben.
  Seit dem Verlust, den Aachen durch die Verlegung des Krönungs-Ceremoniels nach Frankfurt a.M. erlitt, hat kein Ereigniß den Verfall dieser einst so blühenden Stadt in dem Maße beschleunigt, als die Vertreibung der Protestanten. Die Zahl der Einwohner sank allmählig zu 30,000, einem Drittheil der ehemaligen Menschenmasse, herab. Dem Gewerbfleiße der Vertriebenen boten sich in der Nähe der Stadt, nach allen Richtungen hin, günstige Freistätten dar. Bald blühten Fabriken zu Burtscheid, Stolberg, Monjoie und Vaels unter den Mauern der Stadt auf, die das nächste Interesse des gemeinen Wesens so sehr verkannt hatte. In der Folge gelang es zwar, einzelne Familien, durch Zusicherung freier Religionsübung in den benachbarten Kirchen zu Vaels und Stolberg, nach Aachen zurückzuführen; allein die Beharrlichkeit, mit welcher man sie von den Magistratswürden ausschloß, ließ nie eine innigere Verschmelzung ihres Interesses mit dem der übrigen Bewohner der Stadt zu, welche, bei den größeren Reichthümern der Protestanten, für das Gemeinwesen von wesentlichem Vortheil gewesen seyn würde.
  Dabei dauerte die Eifersucht der unaufhörlich um die Regentschaft einer nur dem Namen nach freien Reichsstadt buhlenden Parteien fort, und die mannigfachen Beschränkungen einer althergebrachten Zunftverfassung ließen die Industrie nicht zu dem Flor gedeihen, den sie in den kleinern Fabrikörtern der Umgegend erreichte.
  Noch wenige Jahre vor der französischen Revolution (1786) kam es zu offenbaren Gewaltthätigkeiten zwischen der alten und neuen Partei. Von Reiches wegen wurde eine Commission zur Untersuchung und Abstellung der Mißbräuche angeordnet, an deren Spitze sich der würdige Preußische Minister von Dohm befand. Fünfhundert Pfälzische Truppen rückten in die Stadt, um die Ruhe wiederherzustellen und den Maßregeln der Commissarien Nachdruck zu geben. Mit schonender Rücksicht der Local-Verhältnisse und mit strenger Unparteilichkeit gegen beide Parteien suchte Hr. v. Dohm durch seinen neu entworfenen Constitutions-Plan die unglückliche Stadt zu der verlornen Freiheit und einer weiseren Verwaltung zurückzuführen. So kehrte wenigstens Ordnung wieder, wenn es auch nicht gelang, den Parteigeist zu beruhigen. Nachdrücklicher wirkten die großen politischen Ereignisse, welche Aachen schon zu Anfang des letzten Jahrzehends des 18. Jahrhunderts, den Händen der siegreichen französischen Republikaner überlieferten. Nach der Schlacht bei Jemappes (1792) wurde Aachen von den Franzosen besetzt; sie verließen die Stadt wieder im März des folgenden Jahres, kehrten aber im Sept. 1794 zurück und behaupteten
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  sich, bis es den siegreichen Verbündeten im Januar 1814 gelang, diese altdeutsche Stadt den französischen Händen zu entreißen. —♦
  Auf das innere Leben der Stadt wirkte die Vereinigung mit Frankreich heilsam. Auch hier wurde dem geistlichen und oligarchischen Zwang sein Ziel gesetzt; und sehr viel war schon dadurch gewonnen für die Vereinigung getrennter Gemüther, daß sie sich von einseitigem, oft nur scheinbaren Interesse, zu einem größeren, gemeinsamen Schicksal erhoben. Auch wurde nicht bloß den Mißbräuchcn der städtischen Verwaltung gesteuert; durch die Einführung der Gewerbfreiheit wurden auch die Fabrikstätten von neuem belebt. In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts beschäftigten die Tuchmanufacturen Aachens und Burtscheids an 28,000 Menschen (Vergl. Dorsch Statistique du dep. de la Roer), und die Strenge, mit welcher Frankreich das Continental System verfolgte, sicherte den hiesigen Fabriken einen ungewöhnlichen Flor. Das Arbeitslohn verdoppelte sich; die Betteley verschwand; die Fabrikanten bemühten sich unter so günstigen Verhältnissen immer mehr ihre Arbeit zu vervollkommnen. Die feinsten Tücher Aachens wetteiferten mit den vorzüglichsten der Englischen und Französischen Fabriken; ihre Casimirs behaupteten selbst einen entschiednen Vorzug. Diesen Fabrikaten standen während der Dauer jener günstigen Periode die Märkte von Frankreich, Italien, Holland, Deutschland, der Türkey, von Polen und Rußland offen. Frankreich und Holland unterhielten die kleineren Fabrikanten; den Märkten der entlegenem, größern Staaten wurden die Fabrikate der größeren Handelshäuser zugeführt. Aber dieser Zustand, konnte nicht dauern; mit dem Urheber des Continentalsystems mußte das System selbst stürzen. Unter diesen Umständen muß es der Stadt zum Troste gereichen, einem Staate anzugehören, der die Handelsfreiheit aufrecht zu erhalten sucht, so weit es nur immer seine Verhältnisse gestatten.♦
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Stand: 27. Oktober 2017 © Hans-Walter Pries