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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-02-0-5
Erste Section > Zweiter Theil > Einleitung > III. Transcendentale Wissenschaften
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Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
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Inhalt: Übersicht
⇦ II. Anthropologische Wiss.
Positive Wiss. ⇨

⇧ S. XXVII    
Forts. S. XXVII III. Transscendente Wissenschaften.  
  Der hier gewählte Name für diese Wissenschaften ist neu, der Streit über sie sehr alt. Einen wahren Abgrund von Mißverständnissen eröfnet dieser Streit, und jede Partei nennt andre, hieher gehörige, Wissenschaften. Darum wurde jener Name gewählt, denn was auch irgend eine Partei als hieher gehörig genannt hat, trägt doch unverkennbar den angegebenen Charakter an sich, den Charakter der Wissenschaft im strengsten Sinne, die nicht aus Erfahrung geschöpft ist und nicht daraus geschöpft seyn kann, weil sie alle Erfahrung übersteigt (transscendit). Alle bisher namhaft gemachten beruhten auf äußerer oder innerer Erfahrung, waren das Werk der Abstraction und Reflexion: die, welche hieher gehören, sollen weder die Erfahrung zur Basis haben, noch durch Abstraction und Reflexion gebildet seyn. Zwei Fragen müssen hier aufgeworfen werden: Was ist es, das über alle Erfahrung hinaus liegt? Und auf welche Weise entsteht dadurch ein Wissen in mir? — Eine dritte Frage wurde, wie wir gleich sehen werden, erst viel später aufgeworfen, und es geht mit ihr wie mit dem Ei des Kolumbus. Viele haben gemeint, diese dritte Frage hätte zuerst aufgeworfen werden müssen; allein es muß wol dem Entwickelungsgange unserer Natur gemäß seyn, daß sie in der angegebenen Ordnung aufgeworfen wurden, weil man sie überall so aufwarf. Weil man sie aber wirklich auch überall aufwarf, muß in unserm Geist ein natürliches Bedürfniß dazu liegen, und sie können nicht von einer blos grüblerischen Neugier seyn ersonnen worden.
  Wir haben gefunden, daß das höchste Interesse menschlicher Forschung sich vereinigte in der Erkentniß der Natur der Dinge und der Bestimmung des Menschen, und aus diesem Interesse entsprangen die beiden vorigen Classen der Wissenschaften: die Natur- und anthropologischen Wissenschaften. Diese beiden können völlig selbständig behandelt werden, und in der That laufen sie bis zu einem Punkte neben einander hin, ohne sich im Mindesten zu berühren. Aber auch nur bis zu einem gewissen Punkte. Wäre der Mensch ein blos erkennendes Wesen, so würde er bis zu diesem Punkte niemals kommen: allein er ist auch ein handelndes, ein für Lust und Schmerz empfängliches Wesen, und als solches kann er nicht umhin, Betrachtungen über die Natur in Beziehung auf sich, und über sich in Beziehung auf die Natur anzustellen. Er findet sich, im Zusammenhange mit der allgemeinen Natur der Dinge, als einen Theil derselben, und bemerkt doch zugleich, daß er von einer andern Seite mit ihr im entschiedensten Gegensatz stehe, denn in der Natur herrscht mit der strengsten Konsequenz das Gesetz der Nothwendigkeit, Er aber ist sich bewußt, für eigenthümliche Zwecke sich mit Freiheit bestimmen zu können. Nun geräth aber diese Freiheit theils mit der Nothwendigkeit, theils mit fremder Freiheit, in oft sehr harten Zusammenstoß, und mit diesem drängt sich dem Menschen die Idee des Schicksals auf, worüber
S. XXVIII er zu seiner Beruhigung Aufschluß verlangt. Wo aber soll der Mensch diese finden? Ins Unendliche die Reihe des Bedingten hinablaufen kann er nicht, ohne am Ende bei einer Bedingung stehen zu bleiben. Diese Bedingung aber, die nicht selbst wieder bedingt seyn darf, entzieht sich aller seiner Wahrnehmung, und hier tritt uns die schon früher gemachte Beobachtung, daß sowol die Natur-Wissenschaften als die anthropologischen Wissenschaften, ja selbst die Geschichte uns am Ende ganz auf denselben Punkt stellen, als höchst merkwürdig entgegen. Die Naturwissenschaft muß am Ende alles Sinnliche anknüpfen an ein Übersinnliches, denn sie kann keine Wirkung denken ohne Ursache, und kann die letzte Ursache nur in das Absolute setzen. Eben dieses Übersinnliche weiset die Anthropologie in dem Menschen selber nach, denn wäre nicht auch schon sein Denken etwas Übersinnliches, so ist es doch die Freiheit seines Willens. Eben diese Willensfreiheit aber weiset ihn wieder zurück auf eine noch höhere, die ihm als Schicksal unter dem Charakter der Nothwendigkeit erscheint, und eben darum wieder als übersinnliche absolute Ursache. Nur wer oberflächlich und leichtsinnig denkt, kann in beiden Fällen bei dem Zufalle stehen bleiben, aber weder die Vernunft des tieferen Denkers, noch ein nicht verwahrlostes Herz finden dabei Befriedigung, und die Wissenschaften führen von allen Seiten unausbleiblich auf diesen Punkt, der schon darum als der wichtigste erscheinen müßte, weil in ihm alles unser Nachdenken zusammen trifft. ⇧ Inhalt 
  Und dies ist denn der Punkt, auf den es hier ankommt. Daß die Erfahrung uns über ihn nicht belehren könne, springt in die Augen, denn das Absolute ist kein Gegenstand der Erfahrung. Dieses aber soll dargethan werden, sowohl in Beziehung auf den Urgrund (philosophia prima) als den Endzweck der Dinge (Teleologie der Natur und des Menschenlebens).
  Wie nun von dem, was über alle Erfahrung hinaus liegt, gleichwol ein Wissen in dem Menschen entstehen könne, ist die zweite Frage. Man nennt als einzige Quelle dieser Wissenschaft die Vernunft, die nicht, wie der auf das Gebiet der Erfahrung beschränkte Verstand, ein Wissen hervorbringe mittelst der Reflexion durch Begriffe, sondern mittelst der Speculation durch Ideen. Die eigentliche Bedeutung hievon anzugeben, bleibt einem andern Orte vorbehalten, wir müssen uns hier auf die einzige Bemerkung beschränken, daß zwar die Vernunft wol überall das Bedürfniß nach diesem Wissen anregte, daß sie aber doch es keineswegs war, die auch dieses Bedürfniß befriedigte. Rechnen wir einige Versuche in Indien ab, so ist nicht zu leugnen, daß im ganzen Orient allein die Einbildungskraft das angeregte Vernunftbedürfniß befriedigte, und wol auch zu allen Zeiten befriedigen helfen wird und muß. Erst nachdem der tiefsinnige Herakleitos die trostlose Lehre von dem ewigen Fluß aller Dinge aufgestellt hatte, kam man zu andern Versuchen das größte aller Probleme zu lösen und nach göttlicher Wissenschaft zu streben; denn wie anders könnte, man diese Wissenschaft nennen?
  In dem Streben nach ihr konnte man, wie sich leicht ergibt, entweder von dem Menschen, oder von der Natur ausgehen; wovon man aber auch ausging, mußte man immer auf das Andre
S. XXIX kommen. Aus dem sehr natürlichen Grunde, weil die Aufmerksamkeit des Menschen früher angezogen wird von der Außenwelt als der geheimeren Welt in seinem Innern, ging man bei den ersten Versuchen von der Natur aus, und weil man über das Wissen von der Natur als Inbegriffs der sinnlichen Erscheinungen hinaus gehen mußte, nannte man diese Wissenschaft des Absoluten ⇧ Inhalt 
  Metaphysik.
  Wäre man dabei von dem Menschen ausgegangen, so würde man sie ohne Zweifel Metanoëtik genannt haben, aber würde eben so von dem Menschen auf die Natur gekommen seyn, wie man jetzt von der Natur auf den Menschen kam. Die bloße Anzeige dessen, was man gewöhnlich in dieser Metaphysik vortrug, beweist dies:
  1) Ontologie (Lehre von dem Dinge, den allgemeinen Eigenschaften, die allem zukommen müssen, was Ding heißt),
  2) Kosmologie
  als Resultat der Speculation über die Sinnenwelt, so wie
  3) Rationale Psychologie (wol auch Pneumatologie, Geisterlehre),
  4) Rationale Theologie,
  als Resultat der Speculation über die übersinnliche Welt, mit Inbegrif der Beweise für Unsterblichkeit der Sele.
  Es dauerte Jahrhunderte lang, ehe man den entgegengesetzten Weg einschlug, wozu es einer ungleich genauern und reineren Psychologie bedurfte, als man hatte. Mit Locke's Versuch über den menschlichen Verstand begann eine neue Epoche, denn das Resultat seiner Untersuchungen, daß der menschliche Geist die Dinge nicht erkennt, wie sie an sich sind, sondern lediglich auf die Art und Weise, wie seine Organe von ihnen afficirt werden, dieses Resultat verrückte den ganzen bisherigen Standpunkt, und nöthigte zu völlig neuen Untersuchungen. Nach dem zweifelnden Forscher Hume führte diese keiner weiter und tiefer als Kant, den man häufig den alles Zertrümmernden genannt hat, ohne zu bedenken, daß er nicht blos niederriß, sondern auch neu aufbaute, nur freilich nicht das Alte wieder. Seine Untersuchung endigte mit einem entschiedenen Leugnen der Möglichkeit aller Metaphysik, die er geradezu für das Ding erklärte, was nicht ist. An ihre Stelle aber setzte er
  die Transscendental-Philosophie
  als Wissenschaft von dem, was ursprünglich (a priori) der Wirksamkeit aller Vermögen des menschlichen Gemüths zum Grunde liege, und woraus sich ergeben müsse, einerseits was bei der Erkentniß der menschliche Geist nur empfange und was er daraus kraft seiner natürlichen Anlagen und Vermögen, deren inwohnenden Gesetzen gemäß, bilde, und andererseits, wie weit die Grenzen dieser Erkennbarkeit sich erstrecken. — Man sieht leicht, daß Kant es war, der die oben berührte dritte Frage aufgeworfen hatte, die Frage nämlich: wie weit ist dem menschlichen Geist Erkennbarkeit möglich? Vermag er etwas zu wissen von dem, was über den Kreis der Erfahrung hinaus liegt? Kants Leugnen war das Resultat einer scharfgeführten Untersuchung der menschlichen Geistesvermögen selbst, und einer Schei-
S. XXX dung dessen, was in der Erkentniß dem Geiste selbst und was dem erkannten Gegenstand angehört, woraus sich ergab, die Philosophie habe bisher die Gesetze des menschlichen Geistes auf die Natur übergetragen, und der übersinnlichen Welt nur des Menschen Inneres geliehen. ⇧ Inhalt 
  Von jetzt an faßte die Philosophie den subjectiven (anthropologischen) statt des ehemaligen objectiven Gesichtspunktes (von der Natur aus). Zweifel und Bedenklichkeiten mußten vielfach erwachsen, theils über das Absolute selbst und das Wissen von demselben, theils über das wechselseitige Verhältniß des Geistes zu der Natur, und der Natur zu dem Geiste. Fichte, ein kühner Denker, aber auch so einseitig als kühn, suchte den Gordischen Knoten auf Alexanders Weise zu lösen; er faßte blos das Subjective ins Auge, völlig unbekümmert um das Objective, welches in seiner Speculation für ihn gar nicht vorhanden war; über das Hinsehen auf die Welt in ihm verschwand ihm die Welt außer ihm. Genug, er sah blos auf die Thätigkeiten des Geistes, den Geist fand er als ein lebendig Handelndes, die Vorstellungen als Handlungen, selbstthätige Erzeugnisse des Geistes: und weil er über der Vorstellung das Vorgestellte, über dem Gedachten das Seyende vergaß; so wurde das Erzeugniß der Vorstellungen in dem Ich bei ihm zum Schöpfungsacte, das Ich zum Absoluten, das Handeln des Ich zur Welt, und in dem Wissen des absoluten Ich von seinem absoluten Handeln war alles beschlossen. So kam Fichte darauf, an die Stelle alles bisherigen seine
  Wissenschaftslehre
  zu setzen. Nach aller Fichteschen Strenge gab es jetzt nur Eine Wissenschaft, nämlich die Wissenschaft des Wissens selbst. Nicht blos die Natur würde darüber verloren gegangen seyn, sondern auch alles Praktische, hatten dies Letztere nicht Fichte's lebendig moralischer Sinn und zwei Wortspiele gerettet. Da das Vorstellen als Handeln aufgefaßt war, so konnte nun Fichte um das Handeln nicht verlegen seyn, und hiebei erklärte er noch, es gebe nichts Gewisseres als das Gewissen.
  Schelling erkannte, was bei Fichte fehlte, daß die eine Welt verlorengegangen sey, und stellte daher zuerst dem Fichteschen Idealismus wieder einen Realismus zur Seite in einer Naturphilosophie, so daß nun, was man ehedem Metaphysik genannt hatte, jetzt bestand aus
 
Ideal- } Philosophie
und Natur-
  bis er späterhin diese beiden in Eins verschmolz, und nun an die Stelle von allem ein
  Identitätssystem
  trat, dessen Möglichkeit in der Idee aus dem bisherigen bald einleuchtet. Wir sahen, daß die beiden Hauptzweige der Wissenschaften in Einem Punkte zusammen liefen. Diesen ergrif Schelling als den gemeinsamen Mittelpunkt, von dem alle Untersuchung ausgehen müsse, wenn sie zum wahren Wissen führen solle, und machte von da die doppelte Aufgabe zu einer einzigen, suchte zu zeigen, wie in dem Absoluten die Räthsel des Daseyns der Dinge und der Bestimmung des Menschen sich als ein einziges lösen, d. h. wie Nothwendigkeit und Freiheit Eins sind. Eins sind aber auch Natur und Gott, Eins die sinnliche und die übersinnliche Welt, Eins sind Denken und Seyn — im Absoluten.
S. XXXI Wie höchst verschieden von einander nun auch das ist, was man von Zeit zu Zeit als transscendente Wissenschaft aufgestellt hat; so ist doch der Zweck aller: Erhebung zum Absoluten, und Vollendung der menschlichen Wissenschaft in der göttlichen. Wird man nun gleich gegen die meisten Versuche vieler Art mit Recht einwenden, daß, wie die Aufgabe gestellt ist, nur die Gottheit selbst sie zu lösen vermöchte, und daß es ein vermessenes Streben ist, über das All zu entscheiden, von dessen Unendlichkeit man nur einen äußerst kleinen Theil überschaut, und über Urgrund, Urwesen und Endzweck desselben, als habe man im Rathschluß der Gottheit gesessen; so bleiben doch die Versuche selbst achtungswerth, das Streben ehrwürdig, und der menschliche Geist kann es nie aufgeben, weil er weder seine Vernunft, noch seinen Zusammenhang mit der übersinnlichen Welt aufgeben kann. Der Mensch ist zu Metaphysik geboren, aber er ist kein Gott, und er soll nicht, was er nicht kann. Ob es ihm je gelingen werde, im Absoluten den Schein von der ewigen Wahrheit apodiktisch zu trennen, bleibt sehr problematisch: vielleicht sollte sein höchstes Gut nicht einmal im Wissen liegen, sondern im Glauben, und er menschlich auf menschliche Wahrheit sich beschränken. Wenigstens ist es gewiß, daß da, wo alle Speculation aufhört und das Wissen endet, für das nach Befriedigung lechzende Herz der Glaube anfängt, und es ist nöthig, daß wir hier darauf Rücksicht nehmen, und sehen, wie es sich damit verhalte. ⇧ Inhalt 
  Alle Entwickelungen sowol der animalischen als der denkenden und wollenden Natur des Menschen gehen vom Gefühl aus, und alle seine Interessen sind bedingt durch Beschränkungen des Gefühls, Mangel desselben, d. i. durch Bedürfnisse. Jedes neue Bedürfniß ist die Veranlassung zu neuen Entwickelungen und Kraftäußerungen bis dahin schlummernder, immer höherer, Vermögen. Der Mensch, anfangs ein Thier, das, als nur empfindend und begehrend, der Natur unterlag, wird auf diesem Wege ein denkendes, wollendes, sich selbst bestimmendes Wesen, das sich die Natur unterwirft. So offenbaret sich in dem unbestimmten Gefühl eine bestimmende Kraft. In jeder Wesengattung werden durch diese gerade solche Bedürfnisse erregt, und durch das erregte Bedürfniß solche Triebe entwickelt, als der Natur derselben gemäß sind; die Selbstbestimmungen des Gefühls gehen sonach auf eben solche Gegenstände, durch welche dem Gefühl eben dieser Naturart genug gethan wird. Aller sich ankündigende Mangel soll befriedigt werden, und wird es bei dem Menschen durch die Thätigkeit des erst physischen, dann psychischen Triebes. Wie nun der Keim durch seine innere Kraft hinausgetrieben wird über die Erde, so wird des Menschen Geist durch den Drang des Wissens und des Wollens, mittelst dieses Gefühls, hinausgetrieben über alle Erfahrung und Erscheinung zu einem Unendlichen und Absoluten. Aus den Erscheinungen der Welt selbst kommt ja weder der letzte Grund ihres Daseyns (Weltursache) noch die Art ihres Werdens (Weltanfang) zum Bewußtseyn, und eben so ergeht es uns mit unsern Gemüthsvermögen, deren wir uns als bloßer Wirkungen bewußt werden, ohne ihrem Wesen auf den Grund zu kommen. Hier ist ein auffallender Mangel in unserer Erkentniß, der, wie jeder andre, lebhaft gefühlt, neue Kraftanstrengung zur Abhilfe anregt. Das Vermögen, welches hiebei in Thätigkeit gesetzt wird, ist die Einbildungskraft, und daher kommt es, daß,
S. XXXII wie die Geschichte der Philosophie bezeugt, alle Metaphysik in ihrem Ursprunge poetisch ist. Überall geht der strengen Philosophie eine dichterische Periode vorher. Selbst die strengste Philosophie aber kann sich hier nie von der Einbildungskraft wieder losreissen, und die Speculation in ihrer höchsten Wirksamkeit wirkt wieder völlig poetisch, wie z. B. bei Platon und Schelling. Darin liegt der Grund, warum die sogenannten Analytiker unter den Philosophen gegen jene Speculation streiten, denn sie hören gerade da auf, wo diese anfängt, bei den Ideen, zu denen sie jedoch ebenfalls gelangen müssen. ⇧ Inhalt 
  Nur ins sofern der Mensch der Ideen fähig ist, ist er ein geborner Metaphysiker, und nur in sofern er der Ideale (einer Frucht der Ideen) fähig ist, ist er ein religiöses Wesen. Jene und diese sind nur möglich durch die Einbildungskraft, denn 1) kraft ihrer schaft sich der Mensch, zum Behufe seines Denkens, Vorstellungen, wo die Erfahrung keine mehr darbietet; Verstand und Vernunft, als blos Form gebend, können nur die Hervorbringung veranlassen, keineswegs aber diese Vorstellungen selbst erschaffen; und 2) kraft ihrer hat der Mensch Bedürfnisse und setzt sich Zwecke, die durch nichts, was die Erfahrung darbietet, befriedigt und erreicht werden können, und die wir nicht fähig sind zu denken, ohne zugleich den Gedanken eines höheren, reineren Daseyns und einer unendlichen Zukunft zu fassen. ― Wer etwa darum, weil jene Vorstellungen, Zwecke und Bedürfnisse aus der Einbildungskraft entspringen, sie für bloße Täuschungen, Wahn und Traum ausgeben wollte, der würde von der Wirksamkeit der menschlichen Selenvermögen nur eine kraßmaterielle Vorstellung verrathen, und gar nicht bedenken, daß überall alle zusammen wirken müssen. Ob nun ein Resultat mehr aus diesem oder jenem hervorgehe, kann gewiß als sehr gleichzeitig betrachtet werden, genug wenn dieses Resultat nur wirklich unserer ganzen Natur gemäß, und der gesamten Entwickelung derselben homogen ist. Betrachten wir nun aber die Gesamtheit unserer Anlagen, so können wir nicht zweifeln, daß es mit dem Menschen auf Idealität und Unendlichkeit angelegt ist. Wollte nun aber das große Wesen, durch welches wir sind, Interesse für das Überirdische in uns irdische Wesen legen, war's dann nicht am zweckmäßigsten und weisesten, wenn es dasselbe hauptsächlich mit dem Theil unsrer Natur verwebte, der bei uns überall die überlegene Wirksamkeit besitzt, mit Gefühl und Einbildungskraft, deren Thätigkeit sich bei allen weit kräftiger regt, als das Vernunftvermögen? Darum die entschiedene Anlage aller zur Metaphysik, während nur wenige zur Physik geeignet sind, der Beruf aller zur Religion, und nur weniger zur Philosophie. Alle sollten wir in die Welt der übersinnlichen Ideen als in eine Heimath flüchten. Ideen allein dienen uns als sicherer Leitstern, durch Ideale nur gewinnt das Gefühl Befriedigung. Von dem, was die Phantasie an diesen Idealen blos nach Analogie gebildet hat, mag freilich viel wegfallen: allein es kommt auch nicht darauf an, wie wir sie bilden, sondern daß wir sie bilden, und welche Wirkungen dies hat. Glaube an das Göttliche, Glaube an eine Seligkeit, Glaube an eine moralische Weltordnung, dies sind die Wirkungen davon, und mithin alle Elemente der Religion, die sich beweist in einem Handeln aus der vollen, ganzen Kraft dieses Glaubens,
S. XXXIII den die Vernunft zwar bekräftigt, der aber ursprünglich aus dem Gefühl hervor geht, und eben darum an Zuversicht selbst die wissenschaftliche Gewißheit übertrift. ⇧ Inhalt 
  Was wäre es, wenn auf diesem Punkte, wohin uns der Verstand in der höchsten Abstraction, die Vernunft mit ihren äußersten Schlüssen, das Gefühl mit seinem edelsten Bedürfniß führen, Einbildungskraft uns verließe? Bedenken wir genau, wohin wir geführt sind, so müssen wir uns sagen, daß wir vor der tiefsten Nacht des Geheimnisses stehen, aus welcher kein Lichtstrahl unsre Erkentniß erhellt. Das Unbedingte, die höchste Idee, entzieht sich eben so unsrer Darstellung, wie unsrer Erkentniß. An dieser äußersten Grenze unsrer Vorstellungkraft begegnet uns aber die Phantasie als treue Freundin, und wird auch hier zur Wohlthäterin unsers Lebens, indem sie durch Dichtung (das Höchste und Vortreflichste, was sie hat), den strengen Verstand und das zarte Gefühl mit einander aussöhnt, und so eine Lücke in unserm Leben ergänzt, die wir außerdem nur allzu schmerzlich wahrnehmen würden. sie bewirkt ihr höchstes Wunder, indem sie das Übersinnliche mit dem Sinnlichen vermittelt, die übersinnlichen Ideen in ästhetische, und eben dadurch das Glauben in Schauen verwandelt. Von ihr stammt aller Anthropomorphismus und alle Ausbildung des Ideals von Seligkeit. Wie sie an den Eingang in das Leben der Menschheit ein Paradies gepflanzt, ein goldenes Zeitalter gesetzt hatte, so setzte sie an den Ausgang einen Himmel, ein Elysium. War aber das Paradies am Eingang ein bloßer Himmel der Unschuld gewesen; so verlangte jetzt das moralische Bewußtseyn, daß das Paradies am Ausgang ein Himmel des Verdienstes würde. Das Gefühl mußte nun um so mehr Befriedigung in dem Glauben finden, da es das wieder hergestellt sah, durch dessen Vermissen es im Weltlauf verletzt worden war — Harmonie.
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  Das Resultat der höchsten Speculation über diese der Menschheit so wichtigen Gegenstände, die sich der Erfahrungs-Erkentniß entziehen, mag nun Wissen oder Glauben ihr Höchstes seyn, ist immer dasselbe:  
  in dem Menschen liegt ein Streben nach dem Göttlichen, welches aus seiner Anlage zur Idealität hervor geht, durch die er zur Annahme des Absoluten und Unendlichen genöthigt ist. Nur diese Idealität erhebt ihn über das Gemeine, daß in ihm erwacht die Sehnsucht nach mehr Licht und Kraft, nach reinerem Genuß und höherer Tugend, nach einem seligen Zustande vollendeter Harmonie, nach dem höchsten Wahren, dem höchsten Guten, dem höchsten Schönen. An diese Idealität ist also die menschliche Vollendung geknüpft.
S. XXXIII ⇩  
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Stand: 7. Oktober 2017 © Hans-Walter Pries