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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-02-0-7
Erste Section > Zweiter Theil > Einleitung > Politische Wissenschaften und Jurisprudenz
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Inhalt: Übersicht
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⇧ S. XXXVIII    
Forts. S. XXXVIII Daß es mit den politischen Wissenschaften und der Jurisprudenz noch um vieles schlimmer gestanden habe, leugnen jetzt selbst die berühmtesten Politiker und Rechtslehrer nicht, wenn sich gleich auch bei ihnen manches fortgepflanzt hat, dessen Fortpflanzung man nicht recht begreift. So sagt z. B. Hugo (Lehrbuch des civilistischen Cursus 4te Aufl. 1811. Bd. 1. § 22): „Das positive Recht eines Volks hat mit der Sprache und den Sitten desselben auch dieses gemein, daß man es befolgen soll, so wie es nun einmal ist, es mag entstanden seyn, wie es will. Jeder Zufall ist ja doch in moralischer Rücksicht nichts anders, als der Wille der Vorsehung, die den Menschen gewisse Umstände gibt, unter denen er Pflichten erfüllen soll. Diejenigen, welche auf irgend eine Art die Gewalt in die Hände bekommen haben, einen rechtlichen Zustand zu bewirken, oder auch diejenigen, welchen man am meisten zutraut, daß sie verstehen, wie dieser rechtliche Zustand erhalten werden soll, sehen nun einmal etwas so an, sie handeln, sie äußern sich so, und dadurch wird ein Satz positives Recht. Die Gewohnheit ist völlig eben so gut, wie die ausdrücklichen Gesetze." Wie ist das? Soll darum, weil man positives Recht dasjenige nennt, was menschliche Willkür zum Grunde seiner Giltigkeit hat, soll darum nicht gefragt werden, ob diese Willkür auch das Rechte wolle? Wol wird man sich dann der von Hugo selbst angeführten Worte Göthe's erinnern müssen:  
  Es erben sich Gesetz und Rechte
Wie eine ew'ge Krankheit fort,
Sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte,
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage,
Weh dir, daß du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider! nie die Frage.
  Man muß sich wundern, daß Hugo gerade diese letzten Worte weggelassen hat, die doch so geradeswegs auf den einzig richtigen Standpunkt stellen. Darin lag ja eben von jeher der Grund zu aller Beschwerde gegen diese Wissenschaften, daß sie etwas Historisches als etwas Rationelles geltend machen wollten, worin der grausame Misverstand eingeschlossen liegt, als ob ein Zwangs-Recht (was es allerdings geben muß) seinen Grund in einer willkürlichen Zwangslust haben dürfe, — car tel est notre plaisir!
S. XXXIX Wir müssen hier in doppelter Hinsicht auf das Historische Rücksicht nehmen, zuerst in Ansehung unsrer Gesetze und Rechte selbst, dann in Ansehung des Studirens derselben.  
  Durch die germanische Urverfassung, die sich auch nach den erstaunlichen Völkerzügen des fünften Jahrhunderts erhielt, gestaltete sich das ganze neuere Europa. Allodialsystem und Heeresbann waren der Grund der neueuropäischen Staaten, die aus Königen und Adel, Kriegsanführern und Gefolg, Gutsbesitzern und Leibeigenen (Überwundenen) bestanden. Als die Könige, die am Ende fast nichts als den Titel hatten, um ihr Ansehen zu behaupten, darauf bedacht seyn mußten, die reichen Güterbesitzer abhängiger zu machen, entstand die eigentliche Lehnsverfassung, und nun fand man auch für nöthig, die bisher ungeschriebenen Rechte aufzuschreiben. So entstanden die Gesetze der Salier, Ripuarier, Alemannen, Bojoarier, Frisen und Sachsen, und von Völkerstämmen, die aus Teutschland ausgewandert waren, der Burgunder, Ost- und Westgothen und Longobarden. Geistliche, als die einzigen, die sich auf Lesen und Schreiben verstanden, wurden zu diesem Behuf angestellt als Referendarien, Notarien, Kanzler, und als Kapläne waren sie zugleich Archivare, weil man in den königlichen Kapellen die Archive aufbewahrte.
  Durch das Lehnswesen zerfiel aber der Heerbann, eine Lehns-Miliz trat an die Stelle der National-Miliz, die Lehnsbesitzer betrachteten sich bald wieder als Eigenthümer, und die Könige wurden im Krieg und Frieden abhängiger als je. Karl der Große schuf eine neue Ordnung der Dinge, und so merkwürdig als die Gesetzsammlungen der Merovinger für das Privatrecht sind, wurden von nun an für das Staatsrecht die Kapitularien der fränkischen Könige, welche die Kirchen-, Lehns-, Finanz- und Polizei-Verfassung des fränkischen Reiches bestimmten. Die drei Hauptangelegenheiten, welche die ganze Politik des Mittelalters in Anspruch nahmen, die Streitigkeiten der Regenten und ihrer Vasallen, die Streitigkeiten der weltlichen Oberherren und der Päpste über die Grenzen der Gewalt, und die Streitigkeiten der Vasallen unter einander, bestimmten den ganzen Umfang der damaligen Gesetzgebung und Rechtsverhältnisse, und man sieht daraus leicht, daß das Hauptaugenmerk sich richten mußte auf die Grundlage eines
  Lehnrechtes (jus feudale)
  Kirchenrechtes (jus canonicum) und
  Landrechtes, welches sich auf den Landfrieden bezog, worüber die Gebote häufig erneuert werden mußten.
  Nachdem endlich der Kampf zwischen Regenten und Vasallen in Europa sich dergestalt geendet hatte, daß Frankreich, Spanien, Schweden, Norwegen und Dänemark zu absoluter Monarchie, Teutschland und Polen zu Wahlreichen geworden, und England durch besondre Umstände eine freie Verfassung erhalten hatte, da entstand für Politik und Gesetzgebung eine Zeit kräftigerer Wirksamkeit. In Teutschland veranlaßte hiezu besonders die Gründung von Städten, deren Nothwendigkeit wenigstens kein Regent verkennen konnte, für dessen Macht sie die sichersten Stützen wurden. Theils die Entwerfung der Statuten und Stadtrechte selbst (jus municipale),
S. XXXX theils die höhere Bildung, die nur unter der Bedingung von Stadtvereinen aufblühen konnte, bewirkten jetzt freisinnigere Gedanken über Gerechtigkeit, bürgerliche Ordnung und Rechtspflege, wie die hierauf gemachten Sammlungen teutscher Rechte (Sachsenspiegel, Richtsteig Land-Rechts und Lehn-Rechts, der Schwabenspiegel) bezeugen. Im 12ten und 13ten Jahrhundert hatte man Landrechte, Stadtrechte (Statuten) und Weisthümer (Verträge zwischen Landesherrn und Gemeinden über Gegenstände der politischen und kirchlichen Verfassung), durch Scheffenurtheile für rechtsbeständig erkannt. Dem 13ten Jahrhundert gehören mehrere Provinzial-Landrechte an: das Jütische Lowbuch, das Österreichische, älteste Frisische und Rustringer, dem 14ten Jahrhundert ein anderes Frisisches, das Baierische u. a. m. Der Sachsenspiegel, ungeachtet Gregor XI. eine Bulle gegen ihn erlassen hatte, breitete doch seine Wirksamkeit weit aus, und wurde in Sachsen, Brandenburg, Anhalt, Magdeburg, Halberstadt, Holstein, Böhmen, Schlesien, der Lausitz, Meklenburg, Braunschweig-Lüneburg, ja selbst in Holland, Polen, Lief- und Kurland, Dänemark als Richtschnur gebraucht bis ins 15te Jahrhundert. ⇧ Inhalt 
  In Italien war inzwischen das Römische Recht wieder aufgelebt, Rechtschulen und dann Universitäten hatten sich gebildet, und diese drei Umstände waren von dem wesentlichsten Einfluß auf alle nachfolgenden Umbildungen. Das alte Römische hatte sich, während der gewaltigen Katastrophe Italiens, in dem Byzantinischen Kaiserthum erhalten. Hier war unter Justinians Regirung, von einer Gesellschaft dazu bestellter Rechtsgelehrter unter dem Vorsitz des Kanzlers Tribonianus, nach der Grundlage der Institutionen des Cajus und des Edictum perpetuum Adrians, aus dem Vorrathe des geschriebenen Rechtes, eine Gesetz- und Rechtssammlung veranstaltet worden, die im Allgemeinen unter dem Titel des Corpus juris romani civilis bekannt ist, und aus mehreren Theilen bestand, die man nachher eingetheilt hat in
  1) Elementarlehre: Institutionen,
  2) System: Pandekten (weil sie alles enthalten) oder Digesta (weil alles in Ordnung gebracht ist), und Codex.
  3) Zusatzwerke, die sogenannten Novellen (novellae constitutiones) etc.
  Da dieses Gesetzbuch wenigstens eine Zeitlang in dem Theile Italiens, den Belisar von den Gothen eroberte, gegolten hatte, so war es hier nicht fremd, wie sich denn überhaupt Römische Gesetzgebung und Rechtskunde in Italien auch nach den Longobardischen und Fränkischen Verfassungen nie völlig verlor. Ein neues Leben aber begann für dasselbe, als im 12ten Jahrhundert Irnerius in seiner Vaterstadt Bologna eine Römische Rechtsschule eröffnete, indem er den Text dieses Gesetzbuches durch Glossen erläuterte, und hiemit den sogenannten Glossatoren die Bahn brach, die in einem Jahrhundert so viel Wust darüber gehäuft hatten, daß Accorsi mit der Sonderung zum Behuf seines corpus juris glossatum die Arbeit eines zweiten Herkules bei Säuberung dieses Augias-Stalles hatte. Die Menge des Vorhandenen beweist indeß ein großes Interesse der Zeit dafür. Ausländer, welche der Ruf davon nach Italien gezogen hatte,
S. XXXXI weil man seit Errichtung der Städte und Entstehung ganz neuer bürgerlicher Verhältnisse das Bedürfniß einer befriedigenderen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft immer dringender fühlte, verbreiteten davon, was sich unter den Umständen verbreiten ließ, nach Spanien, Frankreich und Teutschland. Als eine Folge der neu angelegten Universitäten nahm in Teutschland das Ansehen des Römischen Rechtes, besonders unter Karl IV. (1346—1378) so zu, daß man es als ein allgemeines kaiserliches geschriebenes Recht, wahrscheinlich deshalb um so lieber ansah, weil die teutschen Kaiser sich als die Nachfolger der Römischen betrachteten. Man weiß, daß dies den Päpsten nie gleichgiltig war, denn es gefährdete ihr hierarchisches System. Aus gleichem Grunde konnten sie auch die Fortschritte des römischen Rechtes nur misfällig bemerken, und unterstützten deshalb auf alle Weise das kanonische Recht, als dessen Basis seit der Mitte des 12ten Jahrhunderts das sogenannte Decretum Gratiani galt, nach welchem, ebenfalls zu Bologna, auf Befehl des Papstes Eugenius III. das kanonische Recht zuerst gelehrt ward. Welche Mühe man sich gab, das Römische Civilrecht dadurch zu verdrängen, liegt am Tage. Die Kaiser, den Grund davon wohl einsehend, unterstützten dagegen das Römische Recht, so daß der Streit zwischen den Welfen, die auf Seite der Päpste, und den Gibellinen, die auf Seite der Kaiser standen, parallel läuft mit dem Streite der Civilisten oder Legisten und der Dekretisten, wie, man die Verbreiter des kanonischen Rechtes nannte. — Beide standen immittelst neben einander, und ihnen beigefügt wurde noch das Longobardische Lehnrecht. Die Consuetudines feudorum, von einem Ungenannten um die Mitte des 12ten Jahrhunderts gesammelt, wurden sogar zu einem Theil des Corpus juris, und seit Friedrich I. sie zu Vorlesungen in Bologna empfohlen hatte, verdrängten sie allmählig selbst in Teutschland das teutsche Lehnrecht, weil die dort hörenden Teutschen vertrauter mit jenem geworden waren. ⇧ Inhalt 
  Als juridische Universitätswissenschaften gab es nun allem diesem zufolge das Römische Civilrecht, das Päpstlich Kanonische Recht und das Longobardische Lehnrecht. Mißlich genug sah es um das Studium von allen dreien aus. Bei dem Römischen Rechte hatte man über Glossen den Text ganz vergessen, dann hatten Bartolus und Baldus in die nachfolgenden Commentare nicht weniger scholastische Philosophie eingemengt, als nur jemals die Theologen in die Dogmatik; gegen die Kanonisten spricht schon das Sprichwort: Magnus Canonista, magnus Asinista. Die Hauptveränderung war auch hier eine Folge der Eroberung Constantinopels durch die Türken (1453), weil die aus dem Byzantinischen Reiche flüchtenden Griechen durch Beförderung der classischen Literatur in den Abendländern Ansichten eröffneten, wie bis dahin sie niemand hatte haben können. Dem 16. Jahrhundert waren wichtige Reformen vorbehalten. Unter Maximilian I. erhielt Teutschland endlich eine festere Constitution. Die höchsten Reichsgerichte wurden angeordnet, die staatsrechtlichen und gesetzlichen Verhältnisse des Ganzen und der Theile mehr bestimmt, und der Landfriede, die Kammergerichtsordnung von 1507, die Notariatsordnung von 1512, so wie mehrere Reichsabschiede und Reichsschlüsse (und die spätere Reichspolizeiordnung) sind als die Vorboten eines
S. XXXXII teutschen Staats- und Privatrechts zu betrachten, welches vielleicht noch früher entstanden wäre, wenn nicht jene höchsten Reichsgerichte beständig nach dem Römischen Rechte gesprochen hätten. Dieses gewann an Ansehn noch, als durch die Reformation das kanonische Recht wenigstens zum Theil an Ansehn verlor, und mußte immer mehr gewinnen, seitdem Cujacius und Alciatus angefangen hatten, die gewonnenen philologischen unb historischen Einsichten anzuwenden, um den Gebrauch der Quelle desselben immer wohlthätiger zu machen. Sie fingen an Hermeneutik, Kritik, Alterthümer, Geschichte hiebei zu gebrauchen, und wurden dadurch die Gründer der sogenannten eleganten Jurisprudenz. Bedenkt man, daß die Reformation die schon vorher entstandene Verschiedenheit unter den teutschen Reichsländern jetzt noch vergrößerte; so muß man es als ein Glück betrachten, daß das Römische Recht gleichsam als die allgemeine Norm blieb. Eine in jeder Hinsicht vortheilhaftere hätte man, da das Verständniß einmal eröffnet war, nicht leicht finden können. Abgerechnet, daß es das philologische Studium begünstigte, welches immer schon an sich den Geist sehr vortheilhaft übt, beförderte es auch durch den Inhalt den Scharfsinn, führte in eine kultivirtere Zeit zurück, und konnte schon durch die von Cajus aufgenommene Eintheilung der Rechtsgegenstände in Personen, Sachen und Foderungen (personae, res, actiones) mit den dazu gehörigen Unterabtheilungen zu einer philosophischen Behandlung des Privatrechts Veranlassung geben, wenn es auch nicht sonst in vielfacher Beziehung mit der gesamten praktischen Philosophie des Alterthums gestanden und jetzt wieder auf eine solche geführt hätte. Freilich wurde manches Vortheilhafte dadurch auch gehindert, die Ausbildung eines teutschen Privatrechts, die historische und antiquarische Forschung zum Behuf des Lehnrechts; zu einem Staatsrecht sammelte man höchstens historischen Stoff, und das so wichtige Kriminalrecht blieb seit 1532 an die höchst mangelhafte peinliche Halsgerichtsordnnng Karls V. gebunden. ⇧ Inhalt 
  Die Befangenheit der Politik und Rechtskunde im Positiven konnte nicht aufhören, so lange es an der absoluten Rechtswissenschaft gebrach, nach welcher man jedes relative Recht hätte beurtheilen können. Politische Stürme mußten erst hereingebrochen seyn, ehe man nur die Idee dazu faßte. Die Kämpfe der Niederländer hatten Hugo Grotius veranlaßt zu seinem Werke de jure belli et pacis, wodurch wenigstens der Gedanke an ein Natur- und Völkerrecht erregt wurde; während der Hugonottenkriege in Frankreich bildete sich Bodin durch sein Werk über den Staat zu einem Vorläufer Montesquieus; am meisten aber errregte der heftige politische Kampf an, den im 17ten Jahrhunderte England gegen die Stuarte führte, hauptsächlich seit dem ausgesprochenen Grundsatz Jacob I., daß die königliche Gewalt von Gott stamme, deshalb unumschränkt sey, eben deshalb aber nicht die Rede seyn könne von Rechten des Volks und Parlaments, sondern nur von ertheilten Gnaden und Privilegien. Zwar war der Hauptschriftsteller in diesem Streite, Hobbes, ein Verfechter der unbedingten königlichen Gewalt, allein die Idee des Naturstandes, von der er ausging, hat vielleicht, besonders seitdem Locke ihn von einer ganz andern Seite dargestellt hatte, kräftiger auf das Fehlende aufmerksam gemacht, als alles andre, zumal da er, zwar nicht mit Zustimmung der Geschichte, aber desto mehr der Philosophie, den Übergang aus dem Naturstand in den Zustand rechtlicher Gesellig-
S. XXXXIII keit durch einen Vertrag motivirte. Nachdem Locke hierauf der Apostel der Menschenrechte geworden war, dienten Puffendorf und Barbeyrac, das Interesse für Untersuchungen dieser Art zu unterhalten: und da während dieser Zeit Herrmann Conring auch die Diplomatik eingeleitet hatte, endete das 17te Jahrhundert wenigstens mit der neuen Erscheinung, daß auf teutschen Universitäten Lehrer des Natur- und Völkerrechts und der Politik (Heidelberg, Helmstädt, Jena, Frankfurt a. d. O.) angestellt waren, und also im Ganzen nicht, ohne wenigstens der Überzeugung nahe gebracht zu haben, daß auch hier ohne Philosophie, Philologie und Geschichte das Recht nicht zu dem Rechten gelangen könne. ⇧ Inhalt 
  Das Verdienst, für das 18te Jahrhundert die nöthige Reform endlich bewirkt zu haben, gebührt der (1694 gestifteten) Universität zu Halle, in deren Geiste nachher (seit 1734) Göttingen fortwirkte. Von jetzt an findet man im Kreise der juridischen Studien als philosophische Wissenschaften Natur- Völker- Staatsrecht und Politik; man war eben so thätig für die vollkommnere Aufstellung eines positiven Staats- und Völkerrechts, wobei die Diplomatik immer nützlichere Dienste leistete, mit deren Hilfe man die corpora juris publici allein zu Stande bringen konnte, als für Bearbeitung eines Teutschen Privatrechts. Zu allem diesem ward die Geschichte in Anspruch genommen, und es entstand zu jenem Behuf eine Reichsgeschichte und eine Rechtsgeschichte; alle historischen Hilfswissenschaften wurden eifriger betrieben. Für das Römische Recht wirkte die Philologie mit allem, was ihr zu Gebote steht, und die Rechtsalterthümer wurden immer sorgfältiger bearbeitet. Zwar zeigte sich zwischen dem Positiven und Philosophischen in Gundling und Wolf noch immer ein Zwiespalt, allein wie hätte dieser sich nicht heben sollen, seitdem Montesquieu durch seinen Geist der Gesetze, Beccaria durch sein Werk über Verbrechen und Strafen allgemeine Theilnahme erregt, Friedrich der Große aber den Thron bestiegen hatte. Man betrachte die Zeit von dem Utrechter Frieden bis zum Fürstenbunde, wie auffallend groß ist der Unterschied! Mit der Reform der politischen und juridischen Wissenschaften hielt die Reform der Staaten gleichen Schritt. Im Allgemeinen war man schon damals so weit gekommen, daß man bei dem wissenschaftlichen Studium der Jurisprudenz, wie Hugo sehr richtig thut, die praktische, philosophische und historische Seite derselben hätte unterscheiden können nach den Fragen: Was ist Rechtens? Ist es vernünftig, daß es Rechtens sey? Wie ist es Rechtens geworden? Im Einzelnen hatte man die gute Sache dadurch bedeutend gefördert, daß man die einzelnen Rechte unabhängig von einander, jegliches aus seinen Quellen, bearbeitete. Man erhielt auf diese Weise mehrere Sammlungen in Teutschland geltender Rechte, bei allen diesen aber doch auch die Überzeugung, daß damit noch nicht genug gethan sey. Wenigstens kamen in zwei teutschen Monarchien, Österreich (1786. 1787) und Preußen (1794, begonnen aber 1780) Gesetzbücher zu Stande, wodurch die bisherigen Quellen des gemeinen Rechts unbrauchbar gemacht werden sollten. Auch die Gesetzgebung Leopolds von Toskana und der Entwurf von Katharina II. bewiesen, wie einer unsrer ehrwürdigsten Juristen sagt, „daß die, von vielen für zu jovialisch gehaltene Hoffnung
S. XXXXIV einer totalen Justizreform, durch Männer, wie Cocceji, Suarez und Carmer, unter selbstthätigen und weisen Fürsten realisirt werden könne." Seit dieser Zeit hat die französische Revolution auch die Nothwendigkeit einer solchen Reform bewiesen, und nachdem das Blut von Millionen für die große Lehre von unveräußerlichen Menschenrechten geflossen ist, ist es unmöglich, daß nicht früher oder später untergehe, was ihr widerspricht. ⇧ Inhalt 
  Die Zeit hat also aufgehört, und zwar schon vor der französischen Revolution aufgehört, wo man von der Politik und Jurisprudenz mit Wahrheit behaupten konnte, daß sie, wenn nicht beabsichtigten, doch dienten, den Zustand der Humanität unter den Menschen zu verhindern, und ein Ideal eines rechtlich-gesellschaftlichen Zustandes als die Schimäre eines träumerischen Kopfes, der die Welt nicht kenne, in üblen Ruf zu bringen. Die Zeit hat aufgehört, wo man unbedingten Glauben an die Heiligkeit von Gesetzen foderte, welche die natürlichen Rechte von Millionen unterdrückten, und den ewigen Zwiespalt unterhielten, ob die Stimme Gottes in unsrer Vernunft und in unserm Herzen, oder das, was man für göttliches Gebot ausgab, Recht habe. Nach langem Streite über den Naturstand hat man sich endlich doch ziemlich allgemein dahin vereinigt, daß er war und dereinst seyn soll, aber ohne wieder zu werden, was er gewesen: denn er war —der Stand des Wilden, soll aber seyn der Stand, worin der Mensch sich selbst als das Werk, welches die Natur nur angefangen, durch eigne Kraft vollendet hat bis zu dem Grade, daß der gesellschaftliche Verein ein wirklicher Verein geworden, worin die allgemeinen Menschenrechte anerkannt sind, keine Gesetze gelten, welche die Vernunft verwerfen muß, vor dem Gesetz politische Gleichheit herrscht, und nichts gehindert wird, was den Zustand der Menschheit glücklicher und vollkommener machen kann. Daß dies des Menschen wahrer Naturstand sey, dies das einzig unverwerfliche Ziel alles politischen und juridischen Strebens: — wer es wissen will, daß die Zeit dies anerkenne, der spreche, wenn die Scham es ihm gestattet, laut das Gegentheil aus, und höre die tausend und aber tausend Stimmen der Verwerfung. Nur was vom Positiven vernünftig, gerecht und billig ist, bleibt bestehen.
  Auch die Vorwürfe, welche man diesen Wissenschaften gemacht hat, heben sich also, denn es ist nicht zu verkennen, daß, seitdem sie aufgehört haben blos positiv zu seyn, sie treue Mitwirker geworden sind für Humanität. Wie hätten sie auch, durchdrungen von dem wahren Geiste der Wissenschaft, dieses Ideal am Ende nicht anerkennen sollen! Ob uns jemals, bei allem Streben nach dem Göttlichen, was unvertilgbar in unsrer Natur liegt, Divinität zu Theil werden könne, wollen wir gern bescheiden bezweifeln. Da der Mensch ohnehin für das Göttliche keinen andern Maasstab hat, als das vollendet Menschliche, so wissen wir kaum, was über die Humanität hinaus liegt; daß in dieser aber alles Menschliche sich vollenden solle, das kann nur der bezweifeln, der geradezu erklärt, das Ziel des Menschengeschlechtes sey Brutalität oder Bestialität, höchstens eine ziellose Puerilität, die den Hobbesischen Naturstand mit dem Krieg Aller gegen Alle verewigt.
  Als ein Glück für die Menschheit muß man es daher betrachten, daß die positiven Wissenschaften sich auf eine Weise umgestaltet haben, wodurch sie zu sehr wichtigen Beförderern der Humanität geworden sind.
S. XXXXV Und nun betrachte man die Mittel, durch welche sie dies geworden sind. Besonders bei dem Gange, den die Jurisprudenz genommen, ist der Einfluß der Universitäten nicht zu verkennen. Auf diesen Universitäten aber geschah auch hierin der letzte entscheidende Schritt durch — Encyclopädie. Mit Recht sagt Hugo: „Eine der bedeutendsten Verbesserungen war, daß man bei der Menge von einzelnen juristischen Collegien auch die Nothwendigkeit eines allgemeinen fühlte, und daß die Institutionen jetzt vollends nicht mehr für totius legitimae scientiae prima elementa gelten könnten." — „Eine solche Encyclopädie ist das wesentlichste Anfangs-Collegium." — Ich verschweige, was sich noch weiter darüber sagen ließe, denn ich kehre jetzt zu dem Anfange zurück. Nach dem Standpunkte, den wir gewählt haben, um das Gebiet des menschlichen Wissens zu überblicken, kann es wol kaum eine angelegenere Frage für uns geben, als die über das Verhältniß des Studirens im Geiste der Universität zu dem encyklopädischen Studium. Das Verhältniß, worein wir die Grundwissenschaften zu den Humanitätswissenschaften gestellt haben, läßt sich hiedurch allein bestimmen. ⇧ Inhalt 
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Stand: 7. Oktober 2017 © Hans-Walter Pries