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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-03-467-9
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Artikel: ANARCHIE
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
Siehe auch: HIS-Data An
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ANARAEI MONTES ⇨

   
Forts. S. 467 Sp. 2 ANARCHIE ist der Zustand eines gemeinen Wesens oder einer politischen Gesellschaft, worin keine (positiv angeordnete) Obergewalt besteht, oder anerkannt wird.♦
  Dieser Zustand kann gedacht werden entweder als vorhergehend der Einsetzung einer Obergewalt, oder als die Folge ihres Aufhörens (oder auch nur ihrer Unterbrechung) mag es bloß der That nach oder auch dem Recht nach geschehen.♦
  In beiden Zuständen denkt man sich also eine durch den bürgerlichen Vereinigungsvertrag zur politischen Gesellschaft verbundene, nicht aber eine ohne alles Band der Gesellschaft, in zerstreuter Vereinzelung oder blos in physischer Berührung
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  lebende, Menschenmenge. Man denkt sich also ein Verhältniß, zu dessen vollendeter Gestaltung diejenige Obergewalt, deren Ermanglung das Wort Anarchie ausdrückt, nothwendig oder natürlich gehört, wo also nur ausnahmsweise jene vollkommne Gestaltung noch nicht zu Stande gekommen oder wieder zu Grunde gegangen ist.
  Wiewohl aber hienach die der vollendeten Einrichtung des Staats — im Begriff oder in der That — vorhergehende, und die als nachfolgendes, zufälliges Gebrechen eines schon eingerichteten Staats gedachte Anarchie in den Hauptmerkmalen mit einander überein kommen: so ist es doch nothwendig die beiden Zustände im Einzelnen zu betrachten, weil unter ihnen gleichwol nicht unbedeutende Unterschiede wirklich obwalten, und noch größere nach den verschiedenen Theorien der Publicisten erscheinen. Man würde sich leichter über die — in staatsrechtlicher Hinsicht allerdings wichtige, und nichts weniger als müßige Schulfrage verständiget haben, wenn man die natürliche von der positiven Gesellschaftsgewalt, das Recht von der That, die bloße Abstraction des Verstandes von der wirklichen Natur der Sache genauer unterschieden hätte.
  Mehre ältere Schriftsteller (von welchen jedoch einige das Wort Anarchie nicht brauchen, wiewol sie den Begriff davon gleichmäßig aufstellen) unter den Neuern aber zumal Martini, und selbst Schlözer haben die Anarchie als einen mittlern Zustand zwischen jenem des außerbürgerlichen und bürgerlichen betrachtet. Sie ist Ihnen ein gesellschaftliches Verhältniß von Menschen, die zwar unter sich den bürgerlichen Vereinigungsvertrag, aber noch keinen Unterwerfungsvertrag geschlossen haben; wonach also unter denselben noch die volle Freiheit und Gleichheit, und keine wahre Gesellschaftsgewalt, sondern blos die Kraft der einmüthigen Beschlüsse giltig wäre. Allein in dem Begriff eines wahren Gesellschaftsvertrags liegt auch zugleich die Unterwerfung unter die natürliche Gesellschaftsgewalt. Nur in der Abstraction, nicht in der Wirklichkeit mögen die Vereinigungs- und Unterwerfungsverträge von einander geschieden werden; und es erhellet daraus, daß Anarchie, wenn sie eine Gesellschaft ohne alle Gewalt bezeichnen soll, etwas sich selbst widersprechendes oder ein Unding ist.
  Sie kann also nur betrachtet werden: 1) In Ansehung einer positiven eingesetzten Obergewalt als Zustand ihres völligen Ermangelns oder auch ihrer bloßen Unwirksamkeit. 2) In Ansehung der natürlichen — also dem Recht nach immer, d.h. so lange die Gesellschaft selbst besteht, vorhandenen – Obergewalt, aber blos als Zustand der Unwirksamkeit, und nie des Ermangelns.♦
  Der erste der beiden Fälle kann also entweder blos der That, oder zugleich dem Recht nach eintreten, der zweite kann rechtlich nie, sondern nur faktisch vorhanden seyn. Denn wenn in einer bürgerlichen Gesellschaft noch keine positive Verfassung eingeführt ist, so gilt darin die natürliche Gesellschaftsgewalt, nämlich der Wille der Majorität oder wenigstens der Unanimität. (S. den Art. Stimmenmehrheit). Und ob auch dieses blos natürliche Verhältniß schwierig, unbeholfen und mangelhaft, ob es
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  unsicher und selbst zur Auflösung führend sey – es ist darin doch die wahre und volle Gesellschaftsgewalt, — welcher alle Einzelnen rechtskräftig unterworfen sind — wirklich vorhanden: ja es kann keine positiv eingesetzte Gewalt mehre oder andere Rechte haben und ausüben, als schon in der natürlichen enthalten sind.♦
  Auf gleiche Weise kehrt die Gewalt, wenn ihre positiv eingesetzten Organe ermangeln, d.h. wenn die Verfassung wie immer — der That allein oder auch dem Recht nach — aufhört, an ihre natürliche Inhaberin, d.h. an die — Gesellschaft selbst und an ihre natürlichen Organe (Majorität, oder wenn man will Unanimität) zurück, und es tritt genau dasselbe rechtliche Verhältniß wieder ein, welches vor Einführung jener Staatsverfassung vorhanden gewesen. Und wenn man ein Volk oder Land, welches seine positiv schon vorhanden gewesene Verfassung — mit Recht oder Unrecht — verloren und noch keine andere gegründet hat, des Namens eines Stats nicht unwerth hält; so kann man denselben auch demjenigen Zustand nicht verweigern, welcher als vorhergehend der Einsetzung einer positiven Verfassung gedacht wird.
  Hienach zerfällt jeder Unterschied, welchen Martini, Schlözer und andere zwischen dieser sogenannten Anarchie und dem Stat aufgestellt haben, und es bleibt nur jener zwischen dem einer positiven Verfassung vorhergehenden oder nachfolgenden Zustand zu betrachten übrig, welcher aber kein wesentlicher mehr seyn kann.
  Die vorhergehende Anarchie (man erlaube uns diese Benennung, um Mißverständnissen zuvorzukommen) ist — wenn wir etwa ganz kleine in sehr einfachen Verhältnissen und unverderbten — etwa durch Überlieferungen heiligen, überhaupt ohne Statsgewalt kräftigen — Sitten lebende Gesellschaften ausnehmen, als welchen auch die anarchische Verfassung zur Noth genügen könnte, — ist wol jederzeit eine Unvollkommenheit oder ein Gebrechen (wie jede schlechte Verfassung ein Gebrechen ist), aber sie ist kein widerrechtlicher Zustand. Sie kann sogar zum Theil auch in constituirten Staten Platz greifen, nämlich wenn und in sofern den verfassungsmäßigen Autoritäten nicht der volle Umfang der natürlichen Gesellschaftsgewalt übertragen, also in Ansehung des nicht übertragenen das natürliche Verhältniß fortdauernd ist. Nur wenn die natürliche Obergewalt — oder die Herrschaft des noch auf sein natürliches Organ beschränkten allgemeinen Willens faktisch und zufällig, durch Ungehorsam der Einzelnen, durch gewaltthätiges Widerstreben, freche Leidenschaft, Parteiwuth oder Selbstsucht der Gesellschaftsglieder, unwirksam gemacht wird — was aber auch einer positiven Statsgewalt wiederfahren kann — tritt eine rechtswidrige Anarchie — welche aber eigentlich die Auflösung der Gesellschaft selbst ist — ein.
  Dagegen kann zwar die nachfolgende Anarchie ohne Unrecht entstehen — wie wenn ein Regentenhaus erlischt, und für diesen Fall in der Constitution nicht vorgesorgt worden, oder in einem Wahlreich, wenn für den Fall der Thronerledigung keine ausdrücklich eingesetzte Gewalt besteht, (in solchen Fällen ist die nachfolgende Anarchie der vorhergehenden völlig gleich), aber mei-
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  stens ist sie ungerecht, d.h. aus ungerechter That entsprungen, und mit Unterdrückung auch der natürlichen Gewalt verbunden. Sie ist die Ausartung einer Verfassung, oder das Aufhören ihrer Wirksamkeit, der Stillstand oder die Lähmung der eingesetzten Gewalten, kurz eine Krankheit des States, welche leicht unheilbar werden und seine Auflösung nach sich ziehen kann.
  Von der vorhergehenden (oder primitiven) Anarchie ist es schwer, historische Beispiele zu geben, weil Völkern, die stark genug sind, um in der Geschichte handelnd aufzutreten, die einfache natürliche Verfassung nicht mehr genügen kann; und weil diejenigen, denen sie genügen könnte, dennoch gar leicht und bald durch Gewalt, Ansehen, Gewohnheit oder Zufall in eine oder die andere positive Form sich fügen. Doch ist auch die nachfolgende Anarchie selten ganz rein oder vollständig anzutreffen; aber beide mögen doch in der Idee rein gedacht werden, und sind wahre Ideen, ob auch nirgend in der Erfahrung eine ganz entsprechende Darstellung vorhanden sey.♦
  Wir möchten die Verfassung der Teutschen zu Cäsars und Tacitus Zeit als Beispiel der vorhergehenden Anarchie aufstellen. Denn die natürliche Verfassung einer freien ungleichen Gesellschaft ist bei ihnen wenigstens in den Hauptzügen noch zu erkennen, und welche positive Einsetzungen schon bei ihnen vorkommen, dieselben sind erst im Entstehen, schwach bezeichnet, ungenügend und von unbefestigtem Ansehen. Gleichwol genießen jene Teutschen unter dem Schirme natürlich guter Sitten und eines treuen Gemeingeistes, welcher ein künstliches Organ des allgemeinen Willens entbehrlich macht, mehr Sicherheit, Ruhe und bürgerliches Glück, als oft unter den künstlichsten Verfassungen und den regelmäßigsten Gewalten aufkommt.
  Beispiele der nachfolgenden Anarchie, als Ausartung oder Verfall der positiven Verfassung, als Krankheit der Staten, treffen wir in neuer und alter Geschichte nur allzu viele an. Die griechischen Freistaten und Rom büßten oftmals die Fehler ihrer künstlichen Verfassungen durch die Gräuel wilder Gesetzlosigkeit und ungebändigten Parteikampfs. Ein uns näher liegendes Beispiel bietet uns das Mittelalter in der Ausartung des Lehenwesens, und in seiner Folge, den Schrecknissen des Faustrechts, dar. Das allerneueste und durch Charakter und Wirkung imponirendste, lehrreichste Beispiel ist die Leidensgeschichte Frankreichs unter den Stürmen der Revolution.
  Untersucht man, welche Verfassungen und welche Staten am meisten geeignet seyen, in Anarchie zu verfallen, und bei welchen die Wirkungen derselben am schrecklichsten seyen: so zeigt es sich in vielfacher Erfahrung, daß es diejenigen sind, worin keine Moralität und keine Freiheit besteht. Wo unverderbte, einfache, naturgemäße Sitten herrschen, da mag auch unter einer minder guten Verfassung Ruhe und Ordnung, innerer Friede herrschen; und eine freie liberale Regirung wird durch die lebendige Anhänglichkeit der Bürger befestigt. Wo das Volk freien Gehorsam den natürlichen Gesetzen leistet, da mag das Nachlassen der positiven Gewalt weniger verderblich seyn. Wo aber der Gebieter
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  Wille als einige Regel der Handlungen gilt, da wird völlige Zügellosigkeit auf die Zerreißung der positiven Bande folgen. Das mäßige, nüchterne Sparta wußte wenig von den anarchischen Gräueln, welche das frivole, wollüstige, den Leidenschaften dienstbare Athen oder Syrakus erfuhren. Rom gehorchte den Gesetzen, so lange die wahre Freiheit und die guten Sitten bestunden: erst der aristokratische Übermuth der Reichen und die Verderbtheit des ganzen Volks setzten freche Gewaltthat an deren Stelle. Die stillen Thäler der Schweiz, das freie Britannien sind so gesichert vor den Schrecknissen der Anarchie, als das osmannische Reich oder die Staten der Barbaresken ihnen preis liegen. Die Richelieu's und die dü Barry's, die Bastille und das Palais Royal haben eine französische Revolution möglich gemacht.♦
  Hienach wäre überflüssig von den Ursachen der Anarchie oder von den Mitteln ihr zuvorzukommen, noch ein weiteres zu sagen. Sie aber in ihrem Laufe zu hemmen, oder sie aufzuheben und zu heilen, ist überhaupt Sache der Weisheit und Kraft derjenigen, denen eigene Bestrebung, oder Recht, oder Verhängniß eine thätige Rolle im Sturm anweisen, ja vielmehr des Verhängnisses allein, als dessen durch Auflösung der Gesellschaftsbande entfesselter Strom der ohnmächtigen Leitung der Menschen spottet.
   
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Stand: 22. November 2017 © Hans-Walter Pries