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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-05-350-1
Erste Section > Fünfter Theil
Werk Bearb. ⇧ 5. Theil
Artikel: ARME
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
Siehe auch: HIS-Data Arm
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Inhalt:
⇦ ARMBRUSTER (Johann Michael)
Armée ⇨

   
Forts. S. 350 Sp. 1 ARME. Alles, was die Armen und die Verbesserung ihres Zustandes betrift, nennen wir Armenwesen. Das Ganze umfaßt eine Menge Ideen; die Einzelnheiten erfodern daher strenge Absonderung.  
  Vor allem müssen wir, was die Bestimmung des Begriffes anlangt, von einem festen Punkte ausgehen. Diesen bezeichnen die ersten Bedürfnisse des Lebens, Nahrung, Wohnung, Kleidung, und Feuerung; nur der Mangel an diesen ersten Bedürfnissen ist als Maßstab für die Armuth anzunehmen.  
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  — Ein Blick auf die Geschicke aller Zeiten und Völker belehrt uns, daß Armuth eben so unzertrennlich von dem Loose des menschlichen Lebens, als von dem Mechanismus der bürgerlichen Gesellschaft ist. Ungleiche Kräfte; ungleicher Standpunkt; ungleicher Besitz; ungleicher Genuß; schon der unvollkommenste Culturzustand bietet diese Erscheinung dar. Je zusammengesetzter nun die gesellschaftlichen Verhältnisse werden, in eben dem Grade nimmt auch die Armuth zu. Wie bei allem jedoch, was aus dem Wesen der Dinge selbst hervorgeht, so findet auch dabei ein gewisses natürliches Ebenmaß Statt. Dieses erhält sich, so lange jene Ursachen allein wirken; allein es verschwindet, sobald sich jene hinzugesellen, die aus dem Kampfe der Elemente, aus den Zufälligkeiten des Lebens, aus den Leidenschaften des Menschen, aus dem Geiste und Charakter der Regirungen, aus den Abwechselungen des Volkszustandes, und aus der Entwickelung des Weltschicksals hervorgehen.  
  Diese Ursachen der Armuth sind so zahlreich und so mannigfaltig, daß auch der strengste Systematiker dieselben ganz genau zu ordnen, nicht im Stande seyn wird. Die Unterscheidung in selbst verschuldete, unverschuldete und gemischte, bietet noch die leichteste Übersicht dar. Leichtsinn, Üppigkeit, Faulheit und Laster aller Art, wie Spiel, Völlerei etc. sind unstreitig die häufigsten Ursachen selbst verschuldeter Armuth. Beachtung aber verdient auch jener unselige Hang zum frommen Müßiggange, der sich in einer Menge überflüssiger Religions-Übungen gefällt. Diese Ursache der Armuth wird in katholischen Ländern, besonders unter dem weiblichen Geschlechte, nur zu oft bemerkt.♦  
  Nach allem ist es indessen abermals ein Beweis von der Güte der menschlichen Natur, daß die Ursachen selbst verschuldeten Mangels bei weitem nicht so zahlreich, als die des unverschuldeten sind. Von letztern dürften folgende die vornehmsten seyn. Der Kampf der Elemente, Erdbeben, Orcane, Überschwemmungen. Brand, u. s. w.; der Krieg mit seinem ganzen schrecklichen Gefolge, nebst Lasten aller Art; allgemeine Mißjahre; allgemeine Theurung; ungewöhnlich strenge Winter u. dg. mehr.♦  
  Sinkender Ackerbau, sinkende Fabriken, und Manufakturen; sinkende einzelne Gewerbe; sinkender Handel; sinkende Schifffahrt. Übertriebenes Maschinenwesen, wenn die Arbeit eben so gut, ja noch besser durch Menschenhände geschehen kann. Wirkliche Übervölkerung, frühe Verwaisung, unglückliche Ehen, übermäßig starke Familien, häusliche Unfälle aller Art. Untüchtigkeit zur Arbeit, als Folge der zerstörenden Natur derselben, oder der zu großen Anstrengung, u. s. w.; auch Mangel an Arbeit überhaupt.♦  
  Langwierige Krankheiten, und Prozesse. Regirungsveränderungen mit allen ihren Folgen, besonders was Pensionen, und Schulden betrift. Finanzoperationen einer nur zu bekannten Art; die willkürliche Verkürzung oder Zurückhaltung der Besoldungen; die Unvollkommenheit der allgemeinen und besondern Polizei, und die daraus entstehende Unsicherheit. Die Begünstigung der Juden, und die Verbindung derselben mit dem Creditwesen des Stats; das Abgabesystem überhaupt, und die Eintreibungsart der-  
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  selben insonderheit; der überspannte Militäretat; der Mißbrauch des Landwehrwesens, besonders, wenn es, der Reluitionsgelder halber, als Finanzquelle dienen muß; endlich, die mangelhafte Gesetzgebung in Allem, was Volkswohlstand betrift. —♦  
  Zu den gemischten Ursachen der Armuth d. h. zu denen, wo wenigstens ein Theil der Schuld auf der Seite der Armen selbst ist, rechnen wir zuerst die vielen leichtsinnigen Ehen, die in den mittlern und höhern Ständen noch viel zu wenig durch Gesetze beschränkt sind; dann den Schwindelgeist, der durch Agiotiren mit Statseffekten, Lieferungen, Aufkäufe u. s. w. schnell und leicht Tausende zu gewinnen sucht, wobei nicht wenig von diesen Schwindlern durch veränderte Conjuncturen zu Grunde gehen; ferner die Menge privilegirter Spielhäuser, Classenlotterien, Ausspielungen, u. s. w., vor allen aber das Lotto; die verderbliche Sucht, ohne die mindeste Arbeit, ohne die kleinste Anstrengung reich zu werden, theilt sich durch das Lotto der ganzen Masse der Bevölkerung mit. Gleichwol endigen bekanntlich unter hundert Lottospielern neun und neunzig mit gänzlicher Verarmung. Überhaupt sind eine Menge gemischter Ursachen der Armuth in den Widersprüchen unserer Gesetzgebung, so wie in dem Mißbrauche aufzusuchen, der mit den Kräften und den Leidenschaften der Menschen getrieben wird.  
  Gehen wir nun zu der Masse der Armen selbst über; so bemerken wir, daß es durchgehend mehr weibliche als männliche Arme gibt, wovon die Ursache in der natürlichen und bürgerlichen Lage der Frauen sehr leicht aufzufinden ist. Was den Stand und die Gewerbe der Armen anlangt; so bemerken wir theils die allgemeinen Verhältnisse der Volksklassen, theils die besondern der Stadt- und Landbewohner, der Beamten und Nichtbedienstigten, der Handwerker und der Tagelöhner, und dgl. mehr. In Ansehung der häuslichen Verhältnisse, zeigen uns verheirathete oder nicht verheirathete, kinderreiche oder kinderlose Arme, Wittwer, Witwen und Waisen, große Verschiedenheit. Eben so bietet uns der Charakter der Armen, vom arbeitsscheuen Bettler bis zum verschämten, stille Noth leidenden eine Menge Abstufungen dar. —♦  
  Nach dem Grade der Armuth ergeben sich zwei große Hauptabtheilungen, wovon die eine diejenigen Armen umfaßt, die von allem entblößt, dennoch ganz unvermögend zur Arbeit sind; während die zweite nur solche Arme begreift, welche die ersten Bedürfnisse des Lebens nicht hinreichend zu erwerben vermögen, was auch immer die Ursache davon seyn mag.♦  
  In der ersten Hauptabtheilung unterscheiden wir wieder Arme, die für immer, und Arme, die nur auf einige Zeit zur Arbeit unvermögend sind. Zu jenen rechnen wir alle Gebrechliche, Verstümmelte, Blödsinnige, Unheilbare, Altersschwache, und dgl. mehr; zu diesen alle Kranke, Verwundete, u. s. w. eben so Kindbetterinnen, Kinder im zartesten Alter, u. dgl. m. Auch rechnen wir hieher alle rechtliche Armen, die aus Mangel an Wohnung, an Werkzeugen, Werkstätten, und Werkstoffen, so wie aus Mangel an Licht und an Feuerung, bestellter Arbeit, oder an Kundschaften anderer Art, z. B. Kutscher u. dgl., an Herrschaften, Dienstherren, u. s. w. periodisch nichts zu erwerben im Stande  
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  sind.♦  
  In der zweiten großen Hauptabtheilung, nämlich den Armen, die die ersten Bedürfnisse des Lebens bloß nicht hinreichend zu erwerben vermögen, finden wir, daß dies ebenfalls entweder für immer, oder nur vorübergehend der Fall ist. Das Maß der Kräfte, die abwechselnde Ergiebigkeit der Arbeit, die Beweglichkeit der Preise, die Verschiedenheit der Jahreszeiten, kurz eine Menge im Leben liegender Dinge können die Ursachen davon seyn. Sehen wir auf das Zahlverhältniß der Armen zur ganzen Bevölkerung; so zeigt sich, was Teutschland im Besondern anlangt, daß auf jedes Hundert Selen, in diesem Augenblicke sieben bis zwölf Arme zu rechnen sind.  
  Fragen wir nach den zweckmäßigsten Mitteln zur Unterstützung der Armuth; so bietet sich vor allen Dingen der statswirthschaftliche Gesichtspunkt dar. Wenn nämlich auch Armuth an sich ein unvermeidliches Statsübel ist; so muß doch wenigstens dem ungeheuern Mißverhältnisse derselben abzuhelfen seyn. Dies erheischt aber so sehr die Pflicht, als der eigene Vortheil der Regirungen. Hiezu ist nun die genauste Erforschung der Ursachen durchaus erforderlich. Daher ein sorgfältiger Überblick der ganzen Statshaushaltung; eine tiefeindringende Prüfung des ganzen Verwaltungssystems!♦  
  Man kann es nicht genug wiederholen, eine der ersten Ursachen der allgemeinen Verarmung liegt in dem drückenden Abgabesystem. Dies ist besonders in solchen Staten der Fall, wo das Regiren nur im Geld-Eintreiben und Geld-Verschwenden besteht; wo der Hof alles, das Volk nichts ist; wo Fürst und Minister den Bürgern feindselig gegenüber stehen; und wo man vielleicht selbst Verarmung als Unterjochungsmittel betrachtet. —♦  
  Indeß sind auch große polizeiliche Mittel erforderlich. Hier unterscheiden wir die allgemeine Stats-Armen-Ordnung, die schon durch den Namen bezeichnet wird, von der besondern Armenpolizei, die sich nach den örtlichen Verhältnissen richten muß. Bei jener kommt es hauptsächlich an auf genaue Kentniß vom ganzen Zustande des Versorgungswesens überhaupt, so wie von den Einnahmen und Ausgaben insonderheit; auf sorgfältige Aufnahme und Classenordnung aller Hilfsbedürftigen, und einfache Organisirung der Verwaltung von einer allgemeinen Centralbehörde; auf Armenhäuser zur gänzlichen Versorgung der wirklich Arbeitsunfähigen; freiwillige Arbeitshäuser für solche, die arbeiten können und wollen, Zwangsarbeitshäuser für arbeitsscheue Bettler, u. s. w. die zur Thätigkeit zu gewöhnen sind; Armenkrankenhäuser, und Gebärhäuser, so wie Waisen- und Findlingsversorgung; auf Bürgerrettungsinstitute, Armenleihhäuser in Verbindung mit Vorschüssen an Arbeitsstoffen, Austheilungen an Brod, Holz etc., worunter auch das so oft vergessene Salz zu begreifen ist, oder öffentliche Speiseanstalten, wirkliches Almosen an Geld.♦  
  Endlich Sorge für die Erhaltung und Vermehrung des Armenfonds, der jährlichen Zuschüsse und Einkünfte, u. gl. mehr; Aufsicht was die Unterhaltung und Verbesserung der Gebäude, Grundstücke, Anlagen etc., betrift; dann Handhabung der Unverletzbarkeit der Immunitäten, und Privilegien aller Art.♦  
  Eine solche allgemeine Stats-Armen-Ordnung muß allen örtlichen Armenanstalten in den Hauptzügen  
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  zur Grundlage dienen, wenn der Zweck derselben erreicht werden soll. Es scheint wünschenswerth, daß dieser wichtige Theil der Gesetzgebung einer eigenen Centralbehörde übertragen werde. Die Bildung eines solchen Ministeriums der Wohlthätigkeit, hat zuerst der trefliche Lawätz in einer unten anzuführenden Schrift in Vorschlag gebracht. —♦  
  Was nun die besondere Armenpolizei anlangt; so treten bei derselben nach Örtlichkeit und andern Umständen, große Verschiedenheiten ein. Land- und Seestädte, Fabrikörter oder Bergwerksgegenden; etc., ja Stadt und Land schon an sich selbst, bieten eine Menge zu beachtender Eigenthümlichkeiten dar. In dieser Hinsicht ist das Studium der verschiedenen Armenordnungen von Wichtigkeit *).♦  
  Doch neben dem, was von Seiten der Regirungen in statswirthschaftlicher, so wie in polizeilicher Hinsicht geschieht, wird auch im stillen Kreise unaufgefodert noch die Menschenliebe thätig seyn. Es gibt eine Religion des Herzens, der Armuth etwas Heiliges ist; es gibt eine Erhebung des Gemüths, mit der kein anderer Genuß verglichen werden kann. Dieses Wirken und Schaffen, dieses Rathen und Helfen, dieses Pflegen und Trösten, gewährt eine Verdoppelung des Lebens, Frieden, Muth, und eine Annäherung zu dem Göttlichen, wie sonst nichts in der Welt. Dies die geistige Entstehungsgeschichte der wohlthätigen Privatanstalten, bei deren Einrichtung es hauptsächlich auf Folgendes ankommt. —♦  
  Zuerst bildet man eine vorläufige Commission, die sich mit den Vorarbeiten zu beschäftigen hat. Vor allen Dingen muß man nämlich wissen, wieviel Arme und Hilfsbedürftige nach Alter, Geschlecht, etc. eigentlich vorbanden sind. Zu diesem Ende theilt man den Ort in Viertel, diese in Bezirke, und jeden Bezirk wieder in Pflegen ab. Jedes Viertel bekommt seinen Hauptvorsteher, wie jeder Bezirk den seinigen, und jede Pflege den ihrigen erhält. Vermittelst der letztern wird es nun leicht, die Armen von Haus zu Haus aufzufinden, so daß zuletzt aus den einzelnen Tabellen nach Alter, Geschlecht etc. eine Haupttabelle ausgezogen werden kann.♦  
  Jetzt schreitet man zur Untersuchung der Fonds, und überhaupt aller Hilfsquellen, die entweder schon vorhanden, oder noch auszumitteln sind. Hierauf wird der Überschlag gemacht, und der jährliche Etat sowol für die ordentlichen als außerordentlichen Ausgaben festgesetzt. Zuletzt werden die Gesetze der Gesellschaft entworfen, die Geschäftsformen bestimmt, und vier stehende Commissionen ernannt. Diese sind die Arbeits- Versorgungs- Kranken- und Schul-Commission. In jeder derselben hat ein Hauptvorstcher, nebst einigen Untervorstehern Sitz. Der gewöhnlichen Sitzungen sind wöchentlich eine bis zwei; außerordentliche Umstände machen natürlich einen Unterschied. Eine Hauptversammlung aller Commissionen hat alle vierzehn Tage, oder vier Wochen, in dringenden Fällen noch öfter, Statt.♦  
  Bei jeder Commission befindet sich ein eigener Cassenbeamter; er wird jedoch durch den Hauptcassirer des Instituts controlirt. Das übrige Personal, wie Secretäre etc. ergibt sich von selbst. Die Benen-
 
   
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  nungen der verschiedenen Commissionen zeigen hinlänglich ihren Geschäftskreis an. Gleich bei der ersten wird als Grundsatz aufgestellt, daß Arbeiten für die Armen das erste Moralgesetz; ihnen Arbeit verschaffen die erste Wohlthat für sie ist. Bei der zweiten tritt der Unterschied zwischen beständiger und temporärer Versorgung ein. Bei der dritten werden, die dringendsten Fälle ausgenommen, durchaus keine eigentlichen Krankenhäuser gebraucht. Bei der vierten wendet man im Grunde nur die wirksamsten Mittel zur Verhütung der Armuth an, wovon unten noch besonders geredet wird.♦  
  Über die Einzelheiten jeder Commission geben die anzuführenden Werke Auskunft. Strenge Ordnung, edle Uneigennützigkeit, öffentliche Rechenschaft; das sind die drei Grundpfeiler einer solchen Anstalt. Eine eigene Berücksichtigung indessen verdienen die sogenannten stillen oder verschämten Armen, die bei der Erinnerung besserer Tage, bei dem Bewußtseyn unverschuldeter Leiden, und bei dem Zartgefühl, niemanden zur Last fallen zu wollen, vielleicht die allerunglücklichsten sind. Hier trete der Menschenfreund gleich einem unsichtbaren Schutzgeiste hinzu! Das eigene Zartgefühl wird fremdes zu schonen wissen; dies ist das Geheimniß des Edelmuths.  
  Neben der Unterstützung der Armuth muß zugleich dem Verarmen thätig entgegen gearbeitet werden, wenn das Ebenmaß des Ganzen erhalten werden soll; wobei sich abermals zuerst die großen statswirthschaftlichen Mittel darbieten, welche größtentheils aus dem, was in dieser Hinsicht oben gesagt worden ist, ergeben.♦  
  Hieran reihen sich folgende polizeiliche Mittel: Aufsicht auf das Markt- und Hökerwesen, die Beschränkung der Schenk- und Spielhäuser, Gesindeordnungen, und Beachtung des Tagelöhnerwesens, da jede dieser Classen so viele Arme erzeugt, ferner Sparcassen, Bürger-Rettungs- Institute, Vertheilungen von Ländereien, u. s. w.♦  
  Endlich moralische Mittel, bei denen unstreitig Erziehung und Unterricht obenan steht. Daher Armenschulen überhaupt, und Industrieschulen insonderheit. Nicht blos Dogmen und Ceremonien, sondern religiöse Grundsätze, und Gewöhnung zur Arbeit — dies ist's, was eigentlich Noth thut. Ein zweites moralisches Mittel ist die Erhebung des Volksgeistes. Je mehr Selbstgefühl, Selbständigkeit und Selbstzutrauen, desto mehr Kraft, desto mehr Thätigkeit, und Unternehmungsgeist. Wo erworbener Wohlstand Ehre, verschuldete Armuth Schande bringt; da strebt jeder vorwärts, da hält sich jeder, wenn irgend nur möglich, aufrecht. Dieser Zug muß sich mit dem Charakter des Volkes so genau verschmelzen, wie Cultus, Dynastie, und Verfassung. Das ist das wahre nationale Ehrgefühl, das allein immer Macht und Stärke gewährt. Nun aber ist ohne eine liberale Regirung keine Erhebung des Volksgeistes denkbar; es erhellet demnach abermals, wie genau alle großen Ideen verbunden sind.♦  
  Auf gleiche Art werden die moralischen Mittel von Privatvereinen, oder selbst von einzelnen Menschenfreunden anzuwenden seyn. Schulen, Schriften, Vortrage, Prämien, und Beispiele wirken hier ins Unendliche fort. Es ist ein ungeheures Feld, wo aber auch das kleinste Saatkorn nicht verlo-  
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  ren geht. Die Unterstützungskosten werden, wo Arme noch arbeiten können, zum Theil von ihnen mit eigener Hand sicher erworben, das Übrige wird aus den Mitteln der Institute, oder durch Zuschüsse zusammengebracht. Wie jene Fonds zu verwalten, und diese Zuschüsse zu reguliren seyen, wird theils durch allgemein bekannte Grundsätze, theils durch die örtlichen Verhältnisse bestimmt. Eigentliche Armensteuern indessen sind nie zu billigen; hiervon mahnt Englands Beispiel nur zu warnend ab. Vielleicht böten Luxussteuer, Hagestolztaxen, u. dgl. passendere Hilfsquellen dar.♦  
  Überhaupt sind noch Mittel genug vorhanden, sobald man sie nur aufsuchen, und zweckmäßig anwenden will. Es ist unglaublich, was schon ein Privatmann im Kleinen für die Armen zu thun vermag; was wird nicht Regenten möglich seyn? Die schönste Liebhaberei eines Fürsten ist Volkswohlstand, und Volkszufriedenheit. Wenn sich irgendwo Vortheil mit Pflicht, Mühe mit Genuß vereinigt, so ist es hier der Fall *)
 
  • *) Die vorzüglichsten Schriften über das Armenwesen sind nach der Ordnung, die in diesem Artikel befolgt worden ist: — F. B. Weber statswirthschaftlicher Versuch über das Armenwesen und die Armenpolizei mit vorzüglicher Hinsicht auf die dahin einschlagende Literatur. Göttingen 1807. 8, (gerade nur um der Literatur bis 1807 willen, daher von uns blos die später erschienenen Werke nachzutragen sind) D. Gaum praktische Anleitung zu vollständigen Armenpolizei-Einrichtungen. Heidelberg. 1807. 8. (besonders für den Geschäftsmann sehr brauchbar.) J. D. Lawätz Über die Sorge des Stats für seine Armen und Hilfsbedürftigen. Altena 1815. 8. (Ebenfalls in praktischer Hinsicht höchst empfehlungswerth.) Das Armenwesen, von einer Gesellschaft Armenfreunde, Leipzig 1809. 8. (Leider nur ein Band, der aber schätzbare Materialien enthält.) — Darstellung der im Jahre 1803. in Leipzig errichteten Armenanstalt. Leipzig 1812. 4. (musterhaft.) Nachrichten von dem neusten Zustande der Volksmenge, des Armenstandes, und der vorzüglichsten Wohlthätigkeits-Anstalten in Wien. Ebd. 1810. 8. (sehr unterrichtend.) Bericht über die Bielefelder Versorgungsanstalt. Bielefeld 1810. 8. (in hohem Grade brauchbar.) – Uber die Armenanstalten zu Marburg. Ebd. 2. Hefte 1814 — 17. (vortreflich in seiner Art.) Darstellung der Grundsätze und Einrichtungen der vervollkommneten Braunschweigischen Armen Anstalt etc. (v. Geh. Just. Rath Du Roi.) Braunschweig 1817. 8. (höchst achtungswerth, obgleich die Verwaltung etwas zu complicirt zu seyn scheint.) — F. W. Emmermann die Armenpflege im Herzogthum Nassau. Wiesbaden 1817. 8. (sehr beifallswerth.) — Berichte, und dadurch veranlaßte Vorschläge, und Gutachten über das Armenwesen in den Herzogthümern Schleswig und Holstein. Altona 1818. 8. (ebenfalls sehr schätzbar.) — Vangerow Entwurf zur Vervollständigung der Einrichtung des Armenwesens. Magdeburg 1818. 8. (auf trefliche Erfahrungen gebaut.) C. W. Hufeland Armenpharmacopöe für Berlin, nebst Nachricht von der daselbst errichteten Armen-Kranken-Verpflegungsanstalt. Berlin 1809. 8. (der Name ist Bürge für den Werth.) — Fr. W. Klose Geschichte, Verfassung und Gesetze des Breslauischen Hausarmen-Medicinalinstitnts. Breslau 1808. 8. (gehaltreich.) — Fr. W. Evermann über öffentliche Armenanstalten auf dem Lande. Siegen 1809. 8. (beachtenswerth.) — P. Mourgue Plan einer Vorsichts- und Unterstützungscasse. Frankfurt a. M. 1810. 8. Polizeifama 1811. Nr. 11. — Fr. von Fellenberg Darstellung der Armen-Erziehungsanstalt in Hofwyl. Arau, 1813. 8. — Rengers Bericht über diese Anstalt. Tübingen 1819 8. — Plan des Berliner weiblichen Vereins zur Verpflegung armer Familien. Berlin 1814. 8. (hoher Achtung werth, und darum neben Fellenberg gestellt.) — F. W. Emmermann Anleitung zur Einrichtung und Verwaltung öffentlicher Armenanstalten. Gießen 1814. 8. (vortreflich für den Geschäfts- {1} mann.) – A. Krücke die Pflegeanstalt in Detmold, Lemgo 1813. 8. (Ein schätzbarer Beitrag zur Geschichte der Volkserziehung.)
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Armen-Polizei Armen-Polizei. Was man bei dem Einzelnen Armuth nennt, kann nicht in gleichem Sinne auf ganze Völker bezogen werden, weil diese bei einem so hilfsbedürftigen Zustande gar nicht für sich bestehen könnten, außer etwa im Falle neuer Ansiedlungen, die vom Mutterlande Beistand genießen. Im Großen wird der Begriff nur vergleichsweise gebraucht, so daß man dasjenige Volk arm nennt, welches über weniger Vermögen gebietet als die andern. Solche Armuth ist durch die Natur gesetzt, oder doch mit dem gesamten gesellschaftlichen Zustande eines Volkes nothwendig verbunden. Die Armuth Einzelner im Volke ist ein Übel, dessen Milderung unter die Aufgaben der Statsverwaltung gehört, wenn gleich die gänzliche Entfernung in einem freien und beweglichen Gewerbewesen nicht möglich ist. ⇧ Inhalt 
  Die Häufigkeit der Armuth hängt von vielen Verhältnissen ab, unter denen die volkswirthschaftlichen die erste Stelle einnehmen. In einem Hirtenvolke ist die Unsicherheit des Erwerbes nicht groß: und die Anhänglichkeit der Stammsgenossen an einander kommt leicht dem zu Hilfe, der nicht durch Dienste seinen Unterhalt erwerben kann. Ein blos landbauendes Volk, bei dem die Zertheilung der großen Besitzungen durch Statseinrichtungen verhindert wird, findet in der schwachen Bevölkerung und in den Speichern der Grundherren Schutzwehren gegen Verarmung; es wäre denn, daß die Arbeiter in zu gedrückter Lage gehalten würden.–  
  Freie, zu keinem Gehöfte gehörende Handarbeiter verarmen schon leichter und die Gefahr wird um so stärker, je mehr Gelderwerb durch technische Arbeiten und Handel aufkommen und die künstlichen Bedürfnisse vervielfachen. Wo die Gelegenheit großer Gewinste in kurzen Zeit besteht, da muß auch viel Wetteifer und Mislingen seyn, so daß ganz natürlich der größte Reichthum neben der schwersten Armuth wohnt, dies trift am häufigsten da ein, wo die Betriebsamkeit eines Volkes auf Verbindungen, Einkauf und Absatz im Auslande und auf großen Handel gegründet ist.  
  In den alten Volksherrschaften, wie Rom und Athen, brachte es die Verfassung mit sich, daß von dem Zinse dienstbarer Länder und Städte die unruhige Menge der Armen öffentliche Unterstützung erhielt; sonst drohte dem Gemeinwesen Gefahr. Im Mittelalter trat, als das Gewerbewesen lebendiger wurde, die Kirche hilfreich ein mit einer rücksichtslosen Mildthätigkeit, wie sie noch jetzt in den südlichen Ländern Europas besteht, dem Gewerbe-Fleiße nicht zuträglich, Müßiggang veranlassend. Auch in Persien gebietet die Religion eine förmliche Einkommenssteuer, die jeder nach Gewissen den Armen entrichtet 1). Zweckmäßiger wirkte, was die Körperschaften für ihre Armen thaten und die milden Stiftungen.  
  Im 16. Jahrh. wurden die Klagen über den Anwachs der Armen und der Bettler stärker als vorher, und man hatte alle Mühe, die öffentliche Sicherheit gegen die letztern aufrecht zu halten. Das Bedürfniß
 
 
  • 1) Chardin. voyage. VII, 329. (d. amsterd. Ausg. 1711.)
 
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  größerer Sorgfalt der Regirung wurde fast um dieselbe Zeit in Spanien und den Niederlanden unter Karl V2), in England unter Heinrich VIII. und Elisabeth, in Deutschland 3) und andern Ländern fühlbar. Die allgemeine Ursache hievon scheint in dem Zuströmen edler Metalle aus der neuen Welt zu liegen, welches die Preise aller Güter gegen Geld erhöhte, während der Arbeitslohn nicht gleichmäßig steigen konnte, hauptsächlich, weil man ihn, seit der Aufhebung der Leibeigenschaft in mehren Ländern, gesetzlich bestimmen zu müssen glaubte. Hiezu kam der Umschwung des ganzen Gewerbewesens durch Änderung des Handelszuges etc. 1601. gab Elisabeth das bekannte, noch jetzt geltende drückende Armengesetz; die teutschen und spanischen Gesetze verordneten ungefähr dasselbe, wurden aber nicht befolgt. Am besten halfen sich die Städte durch Ordnungen und Hilfsanstalten.  
  Die häufige Verarmung in der neusten Zeit ist den verheerenden Kriegen zuzuschreiben, die den Betriebsverlag der Gewerbe überaus verminderten, und den Erschütterungen des Welthandels, wodurch ganze Länder um den gewohnten Absatz kamen. Ferner muß ein Theil der Stockung in den Gewerben auch auf Rechnung der seit 1811. gehemmten Zufuhr edler Metalle aus Amerika geschrieben werden, die so lange dauern wird, bis die Preise der Güter verhältnißmäßig gesunken und Anstalten zur Ersparung an Münze getroffen sind.  
  Malthus, der eine den bisherigen Ansichten geradezu entgegengesetzte Theorie aufstellte 4), hat darin Recht, daß Armuth dann unvermeidlich wird, wenn die Bevölkerung stärker zunimmt als die Menge vorhandner Lebensmittel, und es ist gewiß, daß im natürlichen Gange diese langsamer als jene vermehrt werden. Daraus folgt wenigstens, daß man alle künstlichen Ermunterungen zur Ehe unterlassen, leichtsinniges Heirathen hindern und außereheliche Zeugung seltener zu machen suchen muß, während man zugleich alle Quellen des sicheren Erwerbs öfnet. So wird es möglich den jetzigen Armen beizustehen, ohne zu veranlassen, daß in kurzer Zeit wieder ein ähnliches Mißverhältniß eintrete. —♦  
  Die englische Armenordnung, nach der jedes Kirchspiel seine Armen unterhalten muß, vermeidet diesen Fehler nicht; der Arme lebt dort oft besser als der Arbeiter und heirathet noch, wozu die Erschwerung der Veränderung des Wohnorts etc. kommt. Indeß liegt es im englischen Fabriken- und Handelssystem nothwendig, daß die Armuth häufiger ist als sonstwo. Die Armensteuer der Kirchspiele ist durch die neueren Kriege von 3 auf 9 Mill. Pf. St. gebracht worden.  
  Solche Arme, die sich nicht selbst erhalten können, sind um so leichter zu versorgen, je genauer alle Arbeitsfähigen von ihnen gesondert werden. Bei der Beschäftigung der letztern hat indeß die Regirung mehre wichtige Rücksichten zu nehmen. Fleiß und Sparsamkeit
 
 
  • 2) I. Sempre y Guarinos, biblioth. Hispanola Econom. polit. Madr. 1801.
  • 3) Reichspolizeiordn. 1577, S. 27.
  • 4) An essay on the principle of population . 5th. Edit. London, 1817. III. vol. — Deutsch von Hegewisch; Versuch üb. die Bedingung und die Folgen der Volksvermehrg. Altona, 1807. 2. B.
 
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  der Einzelnen würde untergraben werden, wenn man sich darauf verlassen könnte, durch den Stat immer Arbeit leicht zu erhalten. Gewerbe, die derselbe neu betreiben läßt, werden weniger einträglich seyn; denn wenn sie vortheilhafter wären, so würden meistens die Einzelnen von selbst sich damit beschäftigen. Die schon bestehenden Gewerbe dürfen aber doch nicht beeinträchtiget werden, wie dieß geschähe, wenn der Stat mit Zubuße die Erzeugnisse verkaufte und so die Privatunternehmer um den Absatz brächte. Der Stat soll daher so wenig als möglich den Einzelnen die Sorge für ihren selbständigen Erwerb abzunehmen versuchen. Sein Beistand muß in der folgenden Abstufung geschehen, und die niedrigeren Grade müssen, wo es möglich ist, den Vorzug erhalten.  
  1) Das Unterkommen der brodlosen Arbeiter bei Privaten erleichtern (Arbeitscommissionen).  
  2) Den Bedrängten Unterstützung geben zur Fortsetzung ihres Geschäfts; Vorschüsse von Werkzeugen, Stoffen, Geld, Bezahlung der Miethe und dergleichen. Dabei ist viel Vorsicht nöthig. In Hamburg hat man das rechte Maß gehalten und mit 20. v. H. Verlust, den böse Zahler oder dennoch Verarmte veranlaßten, viel wackere Bürger gerettet 5).  
  3) Arbeitgeben auf Kosten der Regirung. Ein nur auf kurze Zeit zur Abhilfe ungewöhnlicher Noth zulässiges Mittel. Man muß solche Verrichtungen wählen, die sich sicher verlohnen, die man in der Folge doch ohnehin vornehmen würde. Bodenverbesserungen empfehlen sich hiezu am meisten; Straßen, Canäle, Häfen etc. bauen, Landstriche urbar machen, wobei nur auf Einführung guter Bewirthschaftung von Anfang an zu sehen, z. B. das Linthunternehmen, für die Glarner Armen benutzt. – Gemeinweiden bieten auch noch in England ein reiches Feld hiezu 6). – Gewerksarbeiten, wie Spinnen, sind mißlicher.  
  4) Arbeitshäuser, mit Zwang, für Landstreicher und dergleichen, wie in Baiern 7), oder frei. Allerdings wird in ihnen der Unterhalt durch die Menge wohlfeiler gemacht und Gewöhnung an anhaltende Beschäftigung bewirkt; aber das Beisammenseyn ist der Sittlichkeit schädlich und die genannten Nachtheile in ökonom. Hinsicht sind hier am erheblichsten. Die Auswahl solcher Beschäftigungen, die weder viel Zubuße erfordern, noch den Privaterwerb schmälern, ist höchst schwierig, zumal da schon die Straf-(Zucht-) Häuser dasselbe bezwecken. Die Errichtung freier Werkhäuser (wie die workhouses in England) ist daher im Allgemeinen nicht rathsam. Und jeder, dem der Stat Arbeit verschaft, muß sich etwas minder wohl befinden, als der selbstständige Arbeiter, wenn man nicht das Übel noch vergrößern will 8),
 
  • 5) Histor. Darstell. d. hamb. Armenanstalt. Hamb. 1802. S. 130.
  • 6) Harris, on the present Distress of the Country. London 1817.
  • 7) Verordn, vom 28. Novemb. 1816. 4. Verhandlungen der Hamburg. Ges. 1 B. 1792. S. 177 fg.
  • 8) Von Schriften ist noch vorzüglich nachzutragen: v. Jakob, Grundsätze d. Polizei-Gesetzgebung, 2, 652 fg. (eine trefliche Abhandlung des ganzen Gegenstandes.) — von Bonnstetten, Pensées sur divers objets du bien public; Genf, 1815.
 
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Armen-Arzt Armen-Arzt, ist der von Seiten des Stats oder einzelner Gemeinden zur Besorgung der kranken Armen angestellte Arzt. Nicht blos gründliche Kentnisse, sondern auch theilnehmende Gesinnung, Geduld, und Menschenliebe, sind nothwendige Eigenschaften eines solchen. Denn er hat bei seinem Geschäfte nicht blos mit dem Mangel an Hilfsmitteln, sondern sehr oft auch mit den hartnäckigsten körperlichen und nicht selten mit den verderblichsten moralischen Übeln zu kämpfen, zu deren Entdeckung und Abhilfe es der Beharrlichkeit und Menschenkentniß bedarf.♦ ⇧ Inhalt 
  Zugleich muß es sich der Armenarzt zur Pflicht machen, mit möglichst wenigen Mitteln möglichst viel zu bewirken und deßhalb insonderheit bei der Wahl der Arzneien auf Ersparniß zu sehen, ohne die Kranken darunter leiden zu lassen. Literarische Hilfsmittel hiezu gewähren die Armen-Pharmacopöen †) und C. A. Fischer's Versuch einer Anleitung zur Medicin. Armenpraxis. Göttingen 1799. 8.
   
Armen-Recht Armen-Recht. Mit diesem Ausdrucke bezeichnet man mehre Befugnisse, welche dem Armen im Prozesse zustehen, damit derselbe, weil die Rechtspflege nicht unentgeldlich verwaltet wird, aus Mangel an Mitteln, um die Kosten zu bestreiten, nicht in einen rechtlosen Zustand gerathe.♦ ⇧ Inhalt 
  Auf diesen Begriff ist das Armenrecht durchaus einzuschränken, da die Behauptung einiger Rechtslehrer, daß der Arme auch das Vorrecht eines privilegirten Gerichtsstandes habe, obgleich sie durch eine gesetzliche Verfügung 1) unterstützt wird, in die teutschen Gerichte keinen Eingang gefunden hat. —♦  
  Überhaupt aber ist im Prozesse derjenige arm zu nennen, welcher kein hinreichendes Vermögen besitzt, um hiervon, nach Abzug des Lebensunterhalts, die Prozeßkosten zu bestreiten. Da dieses aber etwas relatives ist, da der eine mehr zum Lebensunterhalte bedarf, als der andre; so muß ebendarum auf den Stand und die Würde der Person, welche das Armenrecht in Anspruch nimmt, gesehen werden. Dagegen kommt es nicht darauf an, ob der Arme seine Armuth selbst verschuldet habe, oder nicht; oder ob er christlicher oder jüdischer Religion sey. —♦  
  Das Armenrecht wird von dem Gerichte, und nur auf besonderes Ansuchen, jedoch zu jeder Zeit, und in jeder Lage des Rechtsstreits ertheilt; und zwar muß dieses Ansuchen, falls die Armuth des Nachsuchenden nicht gerichtskundig wäre, eine Bescheinigung von der Ortsobrigkeit desselben über dessen Dürftigkeit enthalten. In einigen Gerichten wird außerdem die Ableistung eines Eides über die Dürftigkeit (des Armen-Eides) erfodert.
 
 
  • †) oder Armen-Apothekerbücher, die nur eine Auswahl wohlfeilerer Arzneimittel, sowol in Hinsicht der (oft nur theuern) Form und Zusammensetzung der Mittel, als in Hinsicht des Gebrauchs inländischer wohlfeilerer Arzneien, für die theuern ausländischen von gleicher Wirkung austellen müssen. Dergleichen Armenpharmocopöen sind: E. C. Nolte's Armenapotheke zum Gebrauche des königl. Armeninstitutes der Stadt Hannover. Hannover 1800. 8. — (Scherbius) Pharmacopöe und Arzneitaxe für das bei hiesiger Armenanstalt angestellte medicinische Personal. Frankfurt am Main 1809. 8. und C. W. Hufeland's Armenpharmacopoe. 2te Aufl. Berlin 1812.
  • 1) c. un. C. III. 14. quando imperator inter pupillos.
 
S. 355 Sp. 2 ARME  
  Ist nun das Armenrecht gestattet, so enthält es für den Armen folgende Vortheile: 1) der Arme ist frei von Bezahlung der Gerichtssporteln, worunter nicht nur Gebühren für den Richter, sondern auch für Kanzlei, und Boten, selbst die Stempeltaxe begriffen sind; 2) er erhält einen Anwalt und Sachwalter ex officio, welche seine Rechtssache unentgeldlich führen müssen; 3) hat der Arme aus Mangel eines Anwalts, den er anzunehmen nicht im Stande war, Termine und Fatalien verabsäumt, so wird er gegen diese Versäumniß in den vorigen Stand wieder eingesetzt (in integrum restituirt) 2). —♦  
  Der Erlaß der Prozeßkosten wird jedoch nur als eine Nachsicht betrachtet, der Arme muß dieselben, wenn er zu bessern Vermögensumständen gelangt, nachbezahlen (er hat in dieser Hinsicht, nur das beneficium annotationis sportularum); auch erstreckt er sich nicht auf baare Auslagen, welche das Gericht hatte. Letztre müssen vielmehr von der Obrigkeit, welcher der Unterhalt des Armen obliegt, erstattet werden, und selbst der Gegner des Armen kann, wenn ihm diese Unterhaltungsverpflichtung nicht etwa selbst obliegt, oder, wenn nicht schon der Arme einen Theil seiner Foderung von ihm erstritten hat, zu deren Vorschuß nicht angehalten werden 3)
   
ARME, freiwillige ARME, freiwillige, anfangs eine um 1370 in und bei Hildesbeim entstandene, nur von einem Procurator geleitete fromme Brüderschaft, seit 1470 ein durch Annahme der Regel Augustins und besonderer Mönchskleidung (Kutte und Mantel grau, Scapulier und Kapuze schwarz) aus dieser Brüderschaft gebildeter geistlicher Orden.♦ ⇧ Inhalt 
  Die freiwilligen Armen waren ungelehrte Layenbrüder, die außer den gewöhnlichen klösterlichen Gebetsübungen verschiedene Handwerke trieben, Kranke pflegten und trösteten Todte begruben und paarweiß ihren Unterhalt zusammenbettelten. Sie hatten zu Hildesheim, Halberstadt, Cöln und in einigen andern niederteutschen Städten Häuser unter eigenen Prioren; bildeten jedoch keine unabhängige Congregation und mußten, weil unter ihnen keine Priester waren, sich zu den Pfarrkirchen ihrer Wohnorte halten.♦  
  Auch in Flandern scheinen sie angesiedelt gewesen zu seyn, da Carl von Burgund ihnen das Privilegium verschaffte, Glockenthürme auf ihren Capellen zu haben und in diesen Messe lesen zu lassen, und Franz Modius *) eine Abbildung der Tracht flandrischer freiwilliger Armen mittheilt, nach welcher sie in tannenfarbigen Kutten, barfuß und mit langen, oben an kleine Crucifixe befestigten Stäben gingen. Diese nie bedeutend gewesene Orden war schon im 17. Jahrh. erloschen **).
   
Arme, Jesu Christi Arme, Jesu Christi s. Fontevraud. ⇧ Inhalt 
   
Arme Katholiken Arme Katholiken s. Augustiner.
⇧ Inhalt 
 
  • 2) Nach einigen Provinzialrechten ist auch die Appellationssumme in Armensachen niedriger bestimmt.
  • 3) S. Gönner Handb. des teutsch, gem. Prozesses. Bd. I. No. 24.
 
 
  • *) De Orig. omn. Ord. Frankf. a. M. 1585. 4.
  • **) Vgl. J. de Busco oder Busch. de Reform. et Visit. Monast. und Script. rer. Brunsvic. ed. Leibnitz T. II. p. 857. Helyot Hist. des Ordres relig. T. III. c. 7.
 
S. 356 Sp. 1 ARMENAK
Arme von Lyon Arme von Lyon s. Waldenser.
   
Arme der Mutter Gottes Arme der Mutter Gottes, s. Piaristen.
   
HIS-Data 5139-1-05-350-1: Allgemeine Encyclopädie 1. Sect. 5. Th.: ARME HIS-Data Home
Stand: 28. November 2017 © Hans-Walter Pries