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Zedler: Natur des Menschen (moralische) HIS-Data
5028-23-1169-2
Titel: Natur des Menschen (moralische)
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 23 Sp. 1169
Jahr: 1740
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 23 S. 602
Vorheriger Artikel: Natur des Menschen
Folgender Artikel: Natur des Menschen (physicalische)
Siehe auch:
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel

  Text Quellenangaben
  Natur des Menschen (moralische) Natura hominis moralis, enthält in sich alle wesentliche Eigenschafften, Kräffte und Würckungen der Seele, benebst deren natürlichen Verbindung mit dem Leibe, mit andern Menschen und mit GOtt in Absicht auf die Seligkeit.  
  Oder es ist die moralische Natur des Menschen, nichts anders, als die Natur des Menschen, so weit sie seinem willkührlichen Gebrauche nach seiner vernünfftigen Erkänntniß und Gutbefinden anheim gegeben ist, damit er frey nach Zwecken würcken möge, und zwar, in einer vernünfftig abzufassenden Subordination derselben, bis auf einen letzten, als ein ihm eigenes, und ihm um sein selbst willen vorgesetztes höchstes Gut, auf dessen Genuß er mit genugsamer Zufriedenheit möge acquiesciren können.  
  Zuförderst muß also der Mensch vermöge seiner moralischen Natur mit Sinnen begabet seyn; und zwar in zweyerley Absicht: erstlich der Erkänntniß des Verstandes wegen, um nemlich sich selbst sowol, als andere Dinge, durch die Empfindung der Sinnen kennen zu lernen; in welcher Absicht die Sinne der erste Grund aller menschlichen Erkänntniß im Verstande sind, und in die äusserlichen und innerlichen Sinne eingetheilet werden, durch deren erstere, (die der Mensch mit dem Viehe gemein hat,) die Seele die Dinge, die ausser ihr sind, insonderheit die Cörper, durch die andern aber, (die dem Menschen allein eigen sind,) sich selbst, und ihre eigene in ihr selbst geschehene Würckungen empfindet, und hierdurch erkennet.  
  Zum andern muß der Mensch mit Sinnen begabet seyn, auch des zu empfindenden Annehmlichen und Unannehmlichen wegen, in Absicht nemlich auf das Gute und Böse, als den Gegenstand des menschlichen Willens; welches (annehmliche und und unannehmliche) ebenfalls entweder durch die äusserlichen Sinne empfunden wird, und also in so weit dem Menschen und Viehe gemein ist; oder durch die innerlichen Sinne, welches dem Menschen alleine eigen ist.  
  Jenes ist ein blosser physicalischer Kützel oder Schmertz, und kan auch einem Wesen, das nicht von moralischer, sondern von bloß physicalischer Natur ist, zukommen; dieses aber ist ein innerliches Vergnügen oder Unvergnügen einer vernünfftigen Seele, das sie, indem sie auf ihre innerliche Würckungen reflectiret, und hierdurch ihrer selbst sich bewust ist, über sich und ihren Zustand empfindet.  
  Dergleichen innerliches Seelen-Vergnügen ist seiner Natur nach moralisch, und dem Menschen eigen; doch kan es auch bey jenem physicalischen Kützel der äusserlichen Sinne in dem Menschen zu finden seyn, und besagten Kützel also zu einem Object einer menschlichen  
  {Sp. 1170}  
  moralischen Belustigung machen, in Betrachtung der natürlichen Verbindung der Seele mit dem Leibe, Krafft deren die Seele auch über die durch die äusserlichen oder bloß leiblichen Sinne empfundene Annehmlichkeit, indem sie darüber in sich selbst reflectiret, sich ein innerliches moralisches Vergnügen machen kan, dessen hingegen ein Vieh bey dem physicalischen Kützel seiner Sinne nicht fähig ist. Dahero der Unterscheid unter der Leibes- und Seelen-Lust der Menschen, und wie jene von dem bloß physicalischen Kützel des Viehes unterschieden sey, erhellet.  
  Es ist natürlicher Weise nicht möglich, daß ein Mensch, der vermöge seiner moralischen Natur mit Sinnen, mit einer Fähigkeit das Annehmliche und Unannehmliche zu empfinden, begabet ist, die Annehmlichkeit, so weit sie Annehmlichkeit ist, nicht begehren, die Unannehmlichkeit aber oder den Schmertz, soweit er ein Schmertz ist, nicht verabscheuen solte. Und also, wo eine Empfindung des Annehmlichen und Unannehmlichen ist, und insonderheit, wenn das empfindende Wesen sich solcher Empfindung auch in sich selbst bewust ist, da muß natürlicher Weise auch ein Wille seyn, d.i. eine Fähigkeit, ja ein natürlicher Trieb, das Angenehme zu begehren, das Unangenehme aber oder den Schmertz zu verabscheuen.  
  Es ist auch nicht zu begreiffen, wenn die Empfindung des Annehmlichen nicht wäre, wie, und wodurch eine Begierde, und wenn die Empfindung des Unannehmlichen nicht wäre, wie und wodurch eine Abscheu entstehen oder erwecket werden könte: denn ohne Empfindung des Annehmlichen und Unannehmlichen kan natürlicher Weise nicht einmahl ein Gegenstand eines Willens, nemlich ein Gut oder Ubel, welches sich solte begehren oder verabscheuen lassen können, möglich seyn: und wie solte eine Begierde oder Abscheu möglich seyn, wenn nichts vorhanden wäre, daß sie erwecken könte?  
  Alles Gute muß, so weit es ein Gut ist, angenehm, und ein Ubel, soweit es ein Ubel ist, unangenehm seyn. Ja, ein Gut, das als ein Gut nicht angenehm, und ein Ubel, das als ein Ubel nicht unangenehm ist, ist ein Begriff, der sich selbst widerspricht. Derowegen da alle Güter des Menschen in das höchste Gut, und in die mittlern Güter eingetheilet werden; und das höchste Gut um sein selbst willen, und nicht wegen eines fernern Gutes, dessen Mittel es sey, begehret wird, so muß das höchste Gut vor allen andern am meisten, an sich selbst, und seiner Natur nach angenehm, und also entweder die Annehmlichkeit selber, und zwar die allerhöchste und beständigste, deren der Mensch in seinem Leben fähig ist, seyn, oder doch dasjenige, das solche letzte, höchste und beständigste Annehmlichkeit unmittelbar erwecket.  
  Nicht allein das höchste Gut ist durch sich selbst und seiner Natur nach angenehm, sondern auch unter den mittlern Gütern, die nur als Mittel zur Erlangung des höchsten Gutes dienen, hat GOtt nach seiner Güte diejenigen, die vor andern nöthig sind, mit einer ihnen eigenen Annehmlichkeit versehen, damit nicht allein der Genuß des höchsten Gutes selbst, sondern auch so gar die Bestrebung nach demselben, die durch Ergreifung besagter Mittel geschiehet, desto angenehmer seyn möge.  
  Solche Annehmlichkeit der Mittel ist zweyerley. Denn sie bestehet entweder in einer würcklichen  
  {Sp. 1171|S. 603}  
  Belustigung, die mit dem Gebrauche der Mittel verbunden ist, z.E. die Annehmlichkeit einer wohlschmeckenden Speise; oder, wenn auch die Mittel ihrer Natur nach beschwerlich sind, in der sehr angenehmen Empfindung der Aufhörung oder Nachlassung solcher Beschwerlichkeit, z.E. in der Ruhe nach vollbrachter saurer Arbeit; welcher gar besondern Annehmlichkeit des Lebens diejenigen, die ein faules Leben führen, sich leichtsinnig berauben. Dannenhero ist alle Annehmlichkeit des Lebens zweyerley, nemlich theils eine letzte und höchste, die mit dem Genusse des höchsten Gutes verbunden ist, auf welcher allererst man mit Zufriedenheit zu acquiesciren Ursache hat; theils blosse Zwischen-Annehmlichkeit, die in den mittlern Gütern ist, auf welcher man also mit Vernunfft nicht acquiesciren kan, sondern sie nur beyläuffig zur Erleichterung der Bestrebung nach dem wahren höchsten Gute mitnehmen mag.  
  Da alle Empfindung des Annehmlichen von Natur den Appetit, oder ein Verlangen erwecket, so kan es von Natur nicht anders seyn, als daß sowol die Haupt-Annehmlichkeit des höchsten Gutes, als die besagten gar vielerley Zwischen- Annehmlichkeiten, die mit dem Gebrauch der mittlern Güter verbunden sind, der Grund eben so vieler natürlicher Appetite, Triebe, oder Verlangen seyn müssen. Diese Triebe sind also dem Menschen so natürlich, als die Sinne, deren Ergötzung sie zum Zwecke haben; sie sind also an sich selbst nicht böse, sondern sollen den Menschen zu Ergreiffung der Mittel des höchsten Gutes annehmlich locken und die Bestrebung nach demselben ihm erleichtern.  
  Die Alten, insonderheit die Stoici, haben die natürlichen Triebe oder Appetite, wie Cicero de finib. bezeuget, prima naturalia genennet: Deren Stillung aber, wenn wir den obersten Haupt-Trieb, der nach dem höchsten Gute ringet, ausnehmen, der Menschen nicht allein nicht zu seinem letzten Zwecke oder höchsten Gute machen, sondern sie wohl gar mit Willen und gern unterlassen, und die daher zu gewartende Annehmlichkeit entbehren soll, wenn und in sofern sie der Erlangung des wahren höchsten Gutes entgegen seyn solte; immassen die blosse Zwischen-Annehmlichkeit der Mittel eben so wenig die letzte Haupt-Annehmlichkeit seyn kan, als ein blosses Mittel der Zweck selbst seyn kan; und die Zwischen- Annehmlichkeiten also nicht wegen ihrer selbst zu suchen sind, gleich als ob man nemlich in ihnen mit einer letzten Zufriedenheit acquiesciren könte, sondern als blosse Neben-Annehmlichkeiten des Lebens, die man, nur soweit die Subordination der mittlern Zwecke bis auf den letzten oder das höchste Guth, als die eintzige beständige Haupt- Annehmlichkeit des Lebens, es zulässet, mitnehmen könne.  
  Ob dahero gleich alles Gute seiner Natur nach angenehm ist, so ist doch deswegen nicht auch alles, was angenehm ist, oder Annehmlichkeit an sich hat, ein wahres Gut, obwol die Annehmlichkeit an sich selbst nichts Böses ist. Das höchste Gut zwar muß an sich selbst angenehm, und dieses Angenehme schlechterdings und um seiner selbst willen zu suchen seyn, weil es als der höchste und letzte Zweck, unstreitig das höchste und vollkommenste Annehmliche seyn muß, welches, gleichwie das höchste Gut den mittlern Gütern ihre gantze wahrhaffte Güte, also auch eben denselben die zu  
  {Sp. 1172}  
  einem ieden Gute von Natur erforderte Annehmlichkeit mittheilet, wenn solche mittlere Güter auch vor sich selbst mit keiner Annehmlichkeit begabet, ja wohl gar unannehmlich und beschwerlich sind. Allein die mittlern Güter, obgleich einige derselben ebenfalls an sich selbst angenehm sind, sind doch deswegen nicht auch wegen ihrer selbst angenehm; dieweil sie, als mittlere Güter, nicht um ihrer selbst willen sind: sondern GOtt und die Natur hat sie auch an sich selbst dem Menschen angenehm machen wollen, um des höchsten Gutes willen; dahero, in sofern sie zu Erlangung desselben angewendet und gebrauchet werden, dergestalt, daß ihre an sich selbst bloß natürliche Annehmlichkeit durch die letzte Haupt-Annehmlichkeit des höchsten Gutes das rechte Leben einer vernünfftigen oder moralischen Annehmlichkeit bekommt, solche ihre Annehmlichkeit eine wahrhaffte menschliche, widrigenfalls aber eine bloß animalische oder thierische, und eine höchst gefährliche Abführerin von dem höchsten Gute, und Verführerin zu einem unglückseligen Leben ist.  
  Also müssen nicht allein diejenigen mittlern Güter, die an sich selbst ohne Annehmlichkeit, ja unangenehm und beschwerlich sind, sondern auch selbst diejenigen, die an sich selbst annehmlich sind, ihre wahre moralische und menschliche Annehmlichkeit von der letzten Haupt-Annehmlichkeit des höchsten Gutes erlangen. Und unter den Mitteln demnach ist weder alles natürlich Annehmliche ein wahres Gut, noch alles natürlich Unannehmliche ein wahres Ubel; weder alle Entbehrung des natürlich Annehmlichen ein wahres Ubel, noch alle Uberhebung des natürlich Unannehmlichen ein wahres Gut.  
  Nunmehro erhellet, warum zur moralischen Natur des Menschen, nebst den Sinnen, dadurch er das Gute mit Lust, das Böse mit Unlust empfinden, und nebst dem Willen, dadurch er jenes begehren, dieses verabscheuen soll, auch ein vernünfftiger Verstand, der jene beyde regieren müsse, erfordert werde. Denn soll der Mensch des Verlangens und Genusses einer wahren Glückseligkeit fähig seyn, so muß er, indem er das Gute mit Anmuth empfindet, darüber, als über einen letzten Zweck, in sich selbst zufrieden und vergnüget seyn können: welches nicht anders geschehen kan, als wenn er durch innerliche Empfindung sich seiner selbst, der empfundenen Annehmlichkeit des Guten, und insonderheit der Wahrhafftigkeit dieses letztern bewust ist.  
  Alle Wahrhafftigkeit des Guten aber muß von einem höchsten und letzten Gute, das an sich selbst ein Gut sey, dependiren, dergestalt, daß alles, was wir vor mittlere Güter achten sollen, nicht durch seine eigene Annehmlichkeit, als welche ihm zum öfftern fehlet, sondern durch seine Abziehlung auf das höchste Gut, wahrhafftig gut ist, und widrigenfalls, wenn es nemlich dem höchsten Gute zuwider ist, vielmehr vor ein Ubel zu achten ist.  
  Weil man nun sich seiner selbst, der Annehmlichkeit des Guten und der Wahrhafftigkeit dieses letztern, nicht anders bewust seyn kan, als durch einen vernünfftigen Verstand, als welcher das höchste Gut, und die Abzielung der mittlern Güter auf dasselbe, durch richtige Vernunfft-Schlüsse erkennen muß: so muß der Mensch, wenn er anders des Verlangens und Genusses einer wahren Glückseligkeit fähig seyn soll, mit einem vernünfftigen Verstande begabet seyn,  
  {Sp. 1173|S. 604}  
  nach dessen Anweisung er manches natürlich Annehmliche als ein wahres Ubel zu fliehen, und manches natürlich Unannehmliche als ein wahres Gut zu suchen sich genöthiget siehet. Hierinnen bestehet die wahrhaffte moralische Natur des Menschen, die denen Bestien, als welche in Ermangelung eines ihnen wahrhafftig eigenen höchsten Gutes bloß nach dem sinnlichen Appetite leben, nicht gegeben ist. Müllers Einleitung zu den philosophischen Wissenschafften.
     

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Stand: 25. März 2013 © Hans-Walter Pries