HIS-Data
Home | Suche
Zedler: Streit [5] HIS-Data
5028-40-834-1-05
Titel: Streit [5]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 40 Sp. 834
Jahr: 1744
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 40 S. 458
Vorheriger Artikel: Streit [4]
Folgender Artikel: Streit [6]
Hinweise:

vorhergehender Text  Teil 4 Artikelübersicht Teil 6  Fortsetzung

  Text Quellenangaben
  Nunmehro kommen wir auf den dritten geistlichen Feind des Menschen, nehmlich auf das Fleisch, welcher eben so viel Unordnung in demselben anrichten und ihn seiner Seeligkeit eben so wohl verlustig machen kan, als es etwas anders zu thun vermögend ist. Wieder diesen müssen wir kämpffen; wieder diesen müssen wir diejenigen Kräffte gebrauchen, die wir in der Wiedergeburt empfangen haben. Diese Kräffte werden der Geist genennet. Und es ist also  
  II. Der Streit des Geistes und des Fleisches,  
  Lat. Lucta carnis et spiritus, derjenige Zustand des Menschen, in welchen dasjenige seine sinnliche Begierde verlanget, was die geistliche verabscheuet, oder wo die geistliche Begierde das haben will, was die sinnliche fliehet.  
  Der heilige Paulus gedencket in dem 5 Capitel des Briefes an die Galater dieses Streites, wenn er spricht: Das Fleisch gelüstet wieder den Geist, und den Geist wieder das Fleisch, dieselben sind wieder einander, daß ihr nicht thut, was ihr wollet. Und damit man um desto deutlicher sehen möge, worinnen sie einander zuwieder wären, so nennt er die Würckungen von beyden in den 19 und folgenden Versen. Man kan auch hierzu die Stelle in dem 8 Cap. 15. u.f. des Briefes an die Römer nehmen.
  In der Weltweisheit wird auch von einem Streite der sinnlichen Begierde und des Willens (lucta appetitus sensitivi et rationalis,) geredet; von welchem bald hernach gehandelt werden soll. Hier müssen wir nur dasjenige anmercken, worinnen sie mit einander übereinkommen, und worinnen sie von einander unterschieden sind.  
  Sie kommen darinnen überein, daß in beyden Arten des Streites eine von den streitenden Partheyen die sinnliche Begierde ist, in so ferne sie lasterhafft ist, und mit dem Nahmen des Fleisches in der Schrifft beleget wird.
  {Sp. 890}
  Denn da nicht iedwedes sinnliches Vergnügen böse ist, so kan auch nicht eine iede sinnliche Begierde böse seyn. In so ferne also die sinnliche Begierde nicht böse ist, in so ferne kan sie auch weder mit der Vernunfft noch mit dem Geiste streiten. Im Ge, gentheile sind sie darinnen von einander unterschieden, daß in dem Streite der Vernunfft und der sinnlichen Begierde, die Vernunfft wieder das Fleisch streitet; da in der andern Art der Geist der streitende Theil wieder das Fleisch ist.  
  Hieraus folget, daß man in der ersten Art des Streites nur solche Bewegungs-Gründe zum Verlangen des Guten und zum Abscheu gegen das Böse antreffe, welche eine gesunde Vernunfft an die Hand geben kan; in der andern aber findet man hierzu solche Bewegungs-Gründe, welche aus dem Wercke der Erlösung hergenommen sind, und das unser Glaube sich zugeeignet hat.  
  Ferner sind darinnen von einander unterschieden, daß der Streit der Vernunfft mit der sinnlichen Begierde auch in einem Unwiedergebohrnen statt hat; da die andere Art des Streites nur in den Wiedergebohrnen Platz findet, welche sich das Verdienst Christi durch den Glauben zugeeignet haben.  
  Man hat den Irrthum dererjenigen auch hierbey anzumercken, welche glauben, daß auch eine gesunde Vernunfft öffters wieder den Geist streite. Denn da weder eine gesunde Vernunfft der Offenbahrung, noch die Schrifft einer gesunden Vernunfft wiedersprechen kan: So ist es auch unmöglich, daß eine gesunde Vernunfft solche Bewegungs-Gründe zum Guten geben kan, welchen die Bewegungs-Gründe in der heiligen Schrifft wiedersprächen; und daß auch seine göttliche Offenbahrung solche Bewegungs-Gründe zum Guten an die Hand geben kan, welche einer gesunden Vernunfft zuwieder wären.  
  Wenn iemand hieran zweifelt, der muß zugeben, daß sich GOtt selbst wiederspreche, da er der Urheber von beyden ist. Da nunaus den Bewegungs-Gründen der gesunden Vemunfft die vernünfftige Begierde des Willens, und aus den Bewegungs-Gründen der Schrifft die Begierde des Geistes entstehet; So können diese beyden Arten der Begierde auch einander nicht zuwieder seyn.  
  Die Gegner von dieser Wahrheit können sich nicht mit den Stellen in der Epist. Eph. II, 3. Col. I, 21. schützen, weil daselbst nicht das Wort logos, welches eigentlich die Vernunfft bedeutet, sondern dianoia stehet, welches eine iede Gedancke der Seele anzeiget, die dem Geiste gar wohl wiederstreiten können.  
  Es giebt auch Leute, welche den Unterschied von beyden Arten des Streites, deren erwehnet worden ist, läugnen oder vermengen. Einige, wenn sie von dem Streite des Geistes wieder das Fleisch in der H. Schrifft reden hören; so verstehen sie durch das Fleisch den menschlichen Cörper. und durch den Geist die Seele des Menschen. Dieser falschen Meynung sind die Wiedertäuffer, Valentinianer, Marcianiten, Manichäer und andere alte Ketzer zugethan gewesen; welche ihren Ursprung aus der Heydnischen Weltweisheit, sonderlich aus der Platonischen und Stoischen, welche alle Schuld von dem Übel dem Cörper und der Materie zuschrieben, genommen zu haben scheinet.  
  Augustinus erklärt ihre Meynung in dem Buche de civ.
  {Sp. 891|S. 459}
  Dei. L. XIV. c 5. mit folgenden Worten: Exterrenis artubus moribundisque membris sic afficianimas opinantur, ut hinc eis sint morbi cupiditatumet timorum et laetitiae sive tristitiae.
  Andere verstehen, unter dem Worte Geist, die Vernunfft, durch das Fleisch aber die sinnlichen Begierden. Dieser Unwahrheit sind einige Papisten zugethan, die mit dem Pelagius dasjenige der Natur zuschreiben, was sie der Gnade zueignen solten.  
  Der erste Irthum fällt weg, wenn man dasjenige bedenckt, was Paulus in dem VIlI Cap. 5. u.ff. des Briefes an die Römer den Fleische für Eigenschafften beyleget, welche unserm Cörper unmöglich alleine zukommen können. Der Apostel begreifft unter dem Nahmen des Fleisches alles dasjenige was dem Heil. Geiste und seinen Gnaden-Würckungen in dem Menschen hinderlich ist , es mag die Seele oder der Cörper seyn. Da er im Gegemheil alles dasjenige Geist nennet, was dem Zuge des H. Geistes nicht wiederstehet, sondern demselben folget.  
  Der andere Jrthum wird auch verschwinden, wenn man nur den Unterschied der beyden Arten des Streites, welcher oben ausgeführet worden ist, wohl überleget. Dieser Streit aber des Geistes wieder das Fleisch wird durch die Wiedergeburt rege gemacht. Denn einem natürlichen Menschen ist allezeit eine böse Neigung angebohren, aus welcher die bösen sinnlichen Begierden entstehen. Durch die Wiedergeburt aber werden die Begierden des Geistes in dem Menschen rege, welche jenen Begierden öffters zuwieder sind, da diese dem göttlichen Gesetzen zuwider sind.  
  Demnach wird der Streit des Geistes und der sinnlichen Begierde durch die Wiedergeburt rege gemacht. Es ist hiermit eben so, als mit dem Streite der Vernunfft und der sinnlichen Begierde beschaffen, welcher aus der natürlichen Verbesserung, die eine gesunde Vernunfft blos zu ihrem Grunde hat, entstehet. Es bekommt also in einem natürlich und geistlich verbesserten Menschen die böse sinnliche Begierde einen gedoppelten Feind, welche mit vereinigten Kräfften wieder dieselbe streiten. Denn die Gnade hebt die Natur nicht auf, sondern stärcket sie.  
  Damit man aber die Art dieses Streites um desto besser einsehen und Gelegenheit zum Siege wieder dasselbe bekommen möge: So muß man wissen, daß unter dem Fleisch alle Böse und unordentliche Affecten und Leidenschafflen der Menschen verstanden werden. Diese Bewegungen der Seele, welche man Affecten nennet, sind, so lange sie vor sich betrachtet werden, keinesweges böse. Sie stammen aus den Begierden her, die in solchen Ge- schöpffen, als die Menschen sind, nothwendig haben seyn müssen, da der HErr gewolt, daß sie auf ihre Erhaltung und Glückseligkeit bedacht seyn solten- Und wer genau auf sie und ihre Würckun- gen in dem Menschen Acht hat. der hat Ursache, die Weisheit des Schöpffers zu bewundern, der den Menschen zu denselben fähig gemacht hat.  
  Die Schrifft leget denen Engeln selber diese Bewegungen bey.
  • Luc. XV, 10.
  • 1 Petr. I, 12.
  Was noch mehr? Unser theuerster Erlöser spürte dieselben.
  • Luc XlX, 41.
  • Joh. Xl, 33.
  Die uns demnach sagen, daß wir uns bemühen müssen, dieselben gantz abzuschaffen, und auszurotten wissen entwe-
  {Sp. 892}
  der nicht, was sie reden, oder verlangen, daß wir das Werck GOttes zerstöhren, und ein nöthiges Stücke der menschlichen Natur verderben, und ge­ gen alle Möglichkeit unterdrücken sollen. Allein der Fall hat auch diese in sich unsträfflichen Bewegungen verdorben und verunreiniget. Sie sind unrein in ihrem Ursprunge. Ist es nicht insgemein eine Böse und lasterhaffte Begierde, die ihnen das Leben giebet?  
  Sie sind ihrer Natur nach böse, und gantz von ihrer wahren Art abgewichen. Sie wären ausser Streit in den Menschen, wenn er unbefleckt geblieben, einem gelinden und sanfften Feuer ähnlich gewesen, das dem Gemüthe Freyheit und Stille übrig gelassen hätte. Was sind sie ietzt? Ein gewaltsamer Sturm, der alles niederreisset, oder ein schädlicher Gift, der den Geist kranck und unmächtig, machet.  
  Sie sind gantz unordentlich in ihrer Krafft und Würckungen. Wo sie starck und hefftig seyn sollen, da sind sie schwach und ohne Leben. Wo sie mäßig seyn solten , da sind sie gewaltig und ungestüm. Wo sie recht aufwacken und sich regen solten, da sind sie gantz stille und unbeweglich: Und die sich alsdenn die größte Mühe geben, sie zu erwecken, erfahren mehr als zu viel, daß der Mensch ungeschickt zu recht guten und seeligen Bewegungen sey.  
  Man sagt, daß die Affecten sündlich und böse wären: Heißt dieses nicht einiger maßen von dem abgewichen, was man von der Natur der Affecten saget? Ein Affect ist nichts als eine angenehme oder unangenehme Bewegung in den Menschen, die vornehmlich den Geist angreifft obgleich der Leib dieselbe insgemein mit empfindet. Der Mensch, der eine solche Wallung spüret, scheinet blos gegen seinen Willen zu leiden, und wenig oder nichts zu dem, was er spüret, beyzutragen.  
  Hat es denn nicht das Ansehen, daß die Affecten eben so wenig für sündlich und unrein können gehalten werden, als der Schmertz oder die Wollust, die durch die Sinnen in dem Leibe erwecket werden? Mit was für Grunde läßt sich eine blosse Empfindung der Seele zu einem Stücke unsers Verderbens machen ?  
  Man muß, diesen Einwurff gründlich zu beantworten, mercken, daß eine solche Bewegung, die ein Affect heißt, dem Verstande unter einer gedoppelten Gestalt vorgestellet werden könne. Man kan sie einmahl gantz und vor sich betrachten, als einen Schmertz, oder als eine Wollust, die aus gewissen vorhergegangenen Dingeu nothwendig entspringen muß. Man kan sie hernach in ihren Umständen, in ihren Ursachen, in ihrem Zusammenhang mit andern Dingen, in ihren Würckungen, in ihren Fortgange ansehen.  
  Die auf iene Weise einen Affect betrachten, werden allezeit Beyfall erhalten, wenn sie behaupten, daß er in sich gleichgültig, und eigentlich weder gut noch böse sey. Es werden aber auch verständige und billige Gemüther sagen, daß er bald etwas gutes, bald etwas böses heissen könne, wenn man ihn von dieser Seite in Erwegung ziehet. Sachen die vor sich unsträfflich, aber durch fremde und unreine Zusätze verdorben, und von ihrer wahren Natur abgezogen werden, heissen mit Recht böse und verdorben.  
  Und ist das alles Sünde, was von der Ordnung GOttes, von seiner eigentlichen Absicht, von der Richtschnur des göttlichen  
  {Sp. 893|S. 460}
  chen Willens abweichet, so kan dieses Wort eben so füglich von den Affecten, wie sie jetzt beschaffen sind, a!s von den Thaten der Menschen, die wieder das Gesetze lauffen, gebrauchet werden. Man mag auf den Ursprung derselben, auf ihre Natur, oder auf die Art, nach der sie unsern Geist einnehmen, man mag endlich auf die Würckungen und Kräffte derselben sehen , so findet man Gelegenheit zu wünschen, daß wir anders seyn möchten.  
  Was ist der Ursprung und Anfang unsrer Affecten? Eine wo nicht gantz böse, doch unreine und von ihrem Zwecke abgewichene Begierde. Das Hertz empfindet seine Lüste, die niemahls so beschaffen sind, daß man sie loben könnte. Diese Lüste werden durch innerliche oder äusserliche Vorstellungen erhitzet und erreget. In diesem Zustande zeugen sie Furcht, Traurigkeit, Hoffnung, Freude und die übrigen Leidenschafften.  
  Wird ein Kind einer verdorbenen und unreinen Mutter nicht ebenfals eine unreine und befleckte Frucht seyn ? Ist es möglich, daß man das gut oder gleichgültig nennen könne, was durch einen unseeligen Trieb hervorgebracht und erweckt wird? Kan man sagen, die Freude, die Judas empfindet, da er seine Geldbegierde vergnügt sieht, sey nicht verwerfflich, obgleich die Lust, aus der sie entstehet, zu seiner bösen Natur gehöre?  
  Es ist nicht nöthig, dieses weilläuftiger auszuführen. Wer billig ist. wird es ohne Beweis einräumen, daß die Würckungen einer Sache von eben der Art seyn müssen, wie die Sache selbst. Kan man auch Trauben lesen von Dornen, oder Feigen von den Disteln, Matth VII, 26.
  Die Natur der Affecten, oder ihre Art den Geist zu bewegen, macht uns ihre Heßlichkeir noch deutli­ cher. Man kan sich hierbey getrost auf die Erfahrung aller Menschenberuffen. Keiner, der sie empfunden, und wer hat sie nicht empfunden? Keiner wird sagen, daß ihr Anlauf richtig, ordentlich u. unsrer Beschaffenheit gemäß sey. Und keiner, der einen rechten Begriff von dem, was gut, gerecht und GOtt gefällig ist, wird einen solchen unordentlichen Anlauf für was erträgliches und dem Menschen anständiges ausgeben  
  In dem ersten Menschen, auch wenn er nicht gefallen wäre, hätten sich Aspecten äussern und regen müssen. Allein sie würden die Ordnung des Schöpffers nicht verkehret, noch den Menschen seiner Stille, seiner Freyheit, seiner wahren Gelassenheit und Ruhe beraubt haben. Es wären sanfte, richtige, stille Regungen gewesen , welche die guten und nützlichen Begierden der Seele in ihrer rechten Krafft erhalten, und der Seele dabey das Vermögen gelassen hätten, sich ihrer verliehenen Gaben verständig zu bedienen. Sie wären einem wärmenden und stärckenden Feuer ähnlich gewesen, wodurch das Leben des Geistes mehr ermuntert, als gedämpffet worden, und hätten uns zur Ausübung heiliger und GOtt gefälliger Wercke geschickt und tüchtig gemacht.  
  Unsre jetzigen Affecten sind von einer gantz andern Beschaffenheit. Wie geschicht uns, wenn eine solche Bewegung unversehens unser Hertz einnimmt, und in seiner Ruhe stöhret? Scheinet es nicht, als wenn ein gewaltsamer Strom aus feinen Ufern breche, und alles überschwemme? Scheinet es nicht, sonder­
  {Sp. 894}
  lich in denen, die von lebhafften Geiste sind, als wenn ein hefftiges Feuer sich anzünde, und mit einem dicken und unangenehmen Dampffe den gantzen Raum unsrer Seelen anfülle? der Verstand, das Licht, das den gantzen Menschen führen soll , wird dunckel, und gleichsam mit einem gifftigen Nebel umgeben. Man sieht selber nicht, und weiß nicht, was man wehlen soll. Und die, so noch sehen, und uns durch ihre Vernunfft führen wollen können den Eingang zu unsern Hertzen nicht finden.  
  Wie zerrüttet muß der Geist eines Menschen seyn, der einer fremden Vernunfft bedarff, und sich doch derjenigen, die ihm zum Gebrauch angeboten wird, nicht bedienen kan? Der Wille kennet in diesen Umständen weder Maaß noch Ziel Er hat seinen Führer verlohren, und sieht sich genöthigt, der Gewalt der blinden und rasenden Begierde zu folgen, die bald auf diese bald auf jene Seite fällt. Der Leib geräth in Unordnung, und muß offt durch Schmach und Unlust die Fehler der verunruhigten Seele büssen Haben nicht viele, denen ein gesetzter und gesunder Leib ein hohes Alter zu versprechen schiene, das Grab gar frühe gefunden, weil sie einem einreissenden Affecte nicht widerstehen können?  
  Der, so am gelindesten von diesen Regungen angegriffen wird fühlet doch so viel, daß er sich versichern kan, diese hefftigen und ungestümen Bewegungen können nicht von einem gerechten und liebreichen Wesen kommen, das die Wohlfahrt seiner Geschöpffe liebet Solte der GOtt, der unsern Geist mit Witz und Verstand begabet, demselben ein gefährliches Feuer zur Seiten gesetzt haben, wodurch dieses unschätzbare Gut unbrauchbar gemacht und verdorben werden könnte? Solte der HErr, der uns unsre Erhaltung anbefohlen, ein verborgnes Gift in uns geleget haben, welches die Kräffte des Leibes unvermerckl abnützen, und unsern Untergang nach und nach zu wegen bringen könnte? Solte das gewaltige Brausen, das uns untüchtig macht, an uns selbst zu dencken, und die Kräffte der Seelen die in einer beständigen Vereinigung arbeiten sollen, so von einander trennet, daß die eine stille stehet, wenn die andre in Bewegung ist, solte dieses eine Anstalt des Höchsten seyn, der Ordnung, Erkänntniß, Verstand und Stille verlanget.  
  Es ist wahr: Ein Affect legt vor sich ein Zeugniß von der Macht und Güte des Schöpffers ab. Aber die Gewalt und Hefftigkeit desselben; die Art, womit er die Seele rühret und einnimmt; die Unordnung, die er auch nach seinem Abzuge zurücke läßt, ist ein Beweiß von seinem Verderben und dem unheiligen Zustande des Menschen.  
  Man kan sich noch auf eine andere Art von dem Verderben der Affecten überführen, wenn man auf das Maaß ihrer Kräffte und Würckungen in den Menschen Acht giebt. Eine Sache, die von einem weisen Künstler darzu bestimmt ist, daß sie andre Dinge stützen, und in Ordnung erhalten soll, wird, so lange sie unbeschädigt bleibet, stets so viel Krafft hergeben, als der Zustand der Sache erfordert, der sie dienen soll.  
  Die Triebfedern, Räder und Gewichte , die den Gang einer Uhr erhalten sollen, stimmen in ihren Würckungen allezeit mit der Absicht überein, zu der
  {Sp. 895|S. 461}
  das Werck verordnet ist, woferne sie nicht aufgehalten oder verletzt werden. Und geht die Uhr unrichtig und wider die Absicht des Verfertigers, so zweifelt niemand, daß die Stücke und Theile in derselben, welche eine Regelmäßige Bewegung unterhalten solten, verdorben und verfälscht sind.  
  Es ist ausgemacht, daß der Herr, der uns mit ei­ ner erstaunenden Weisheit zusammen gefüget, die Affecten zu dem Ende in uns geleget habe, damit unsre Begierden dadurch im Gange erhalten, und wir dadurch desto geschickter würden, an unsrer Wohlfarth und Glückseligkeit zu arbeiten. Das Uhrwerck, wenn man so reden darf, das Gewichte, das Maaß der Affecten müßte also stets, wenn der Mensch in seinen rechten Zustande wäre, nach den Begierden und dem Werthe oder Unwerthe derselben sich richten.  
  Auf eine Begierde, die auf eine grosse und vortreffliche Sache gerichtet ist, müßte ein Affect folgen, der hefftig, starck und der Natur der Sache, die man wünschet, gemäß ist. Der Verlust einer Sache, die zu unsrer Wohlfarth unentbehrlich, müßte eine besondere und ungemeine Traurigkeit begleiten, um den Menschen zu erwecken, alle Kräffte wider solche übel anzuwenden.  
  Die Wahrscheinlichkeit etwas zu gewinnen, das uns in der That vollkommner und glückseeliger machen könnte, müßte nach der Ordnung GOttes eine starcke und lebendige Hoffnung erwecken, um uns zum Eyfer zu ermuntern, dieses Gut an uns zu bringen. Begierden hingegen, die mit gemeinen schlechten und wenig nützenden Dingen beschäfftiget, solten mäßige, geringe und halb lebendige Bewegungen nach sich ziehen.  
  Die Traurigkeit und Furcht eines Menschen, der eine Sache von schlechter Wichtigkeit eingebüsset hat, oder verliehren soll, müßte so geschwinde entstehen, als vergehen, und dem Gemülhe eine gar kleine Beschwerlichkeit erwecken. Die Freude, das Vergnügen, die Hoffnung derer, die etwas suchen, woran so gar viel nicht gelegen, solte gelinde und von einer kurtzen Dauer seyn. Mit einem Worte: Unsere Affecten solten steigen und fallen, sich erheben und niederlassen , wie es der Werth der Dinge, worauf unsre Neigungen fallen, erforderte, und stets nach der Grösse und Würde der Güter, die wir verlangen, eingerichtet und gemäßiget seyn.  
  Ist das Maaß der Affecten in uns so beschaffen? Oder verhält es sich umgekehrt? Man wird bald, wenn man will, aus seinen eignen Empfindungen lernen, daß diese Bewegungen in uns bald starck, wo sie schwach seyn solten, bald schwach, wo sie Stärcke haben solten, und da. wo sie sich am allermeisten zeigen solten, gar nicht einmahl aufgebracht und erreget werden können. Das Gleichgewichte, das zwischen den Affecten und Begierden seyn solte, ist verlohren, und die Affecten selber können deswegen in dem natürlichen Menschen nicht anders; als für verderbt und sündlich gehalten werden.  
  Unsre Affecten sind da schwach. wo sie starck seyn solten. Wissenschafft , Tugend , Vernunfft, Klugheit sind ausser Streit die edelsten Dinge, die ein Mensch besitzen kan Man kan mit einer mittelmäßigen Beredsamkeit den Zustand eines
  {Sp. 896}
  Menschen, der mit diesen Gaben versehen, so abmahlen, daß die Lasterhafftesten ihn loben müssen. Man kan gar durch eine kluge und richtige Vorstellung in denen, die am weitesten davon entfernet sind, elne Begierde darnach zuwege bringen. Würde diese Begierde durch eine starcke Liebe und hefftigen Haß begleitet, so würde sie ein Feuer werden, das Arbeit, Fleiß, Bemühung würckte, diese Güter an sich zu bringen.  
  Allein der Affect will das Leben der Begierde nicht unterhalten. Die Regungen, die man Haß und Liebe nennet, bleiben zurücke. Ist es möglich, etwas von demselben in gewissen Gemüthern zu erregen, so ist die Bewegung doch viel zu unmächtig, als daß sie der Begierde einen rechten Nachdruck geben könnte. Sie ist wie ein falscher Blitz, der nicht zündet.  
  Daher kömmt es, daß die gute Regung gleich wieder vorüber geht, und die Spuren der aufgebrachten Neigung durch die ersten Dinge, die uns begegnen, wieder ausgetreten werden. Ist dieses nicht ein Zeichen unsers Elendes, und ein Beweiß, daß unsre Seele ihre rechte Ordnung verlohren, und die Affecten nicht so mit derselben gepaaret sind, als es billig seyn solte?  
  Unsre Affecten sind da starck, wo sie schwach und geringe seyn solten. Was ist Stand, Ehre, Hoheit Reichthum vor sich betrachtet? Sind es nicht Dinge, die sich wie nichts gegen unsre wahre Glückseeligkeit verhalten? Sind es nicht Güter , die uns meistenheils durch ihre Gegenwart mehr beunruhigen als vergnügen? Haben die, so am meisten mit denselben begabt gewesen, nicht zuletzt gestanden, daß sie einen Schatten der Glückseeligkeit ergriffen , und ein gläntzendes Elend für ein wahres Gut angesehen?  
  Unsere Affecten müßten demnach, wenn sie in ihrer rechten Ordnung stünden, denen Begierden, welche auf diese Dinge fallen, mit wenigen Kräfften zu Hülffe kommen Und geschiehet nicht das Gegentheil? Kaum hat sich die Begierde nach der Hoheit in dem Hertzen eines Menschen gereget, so schickt der Affect der Liebe sein gantzes Vermögen zu ihrer Stärckung ab. Kaum hat sich der Schein des Reichthums unsrer Seelen gezeiget, so ist Liebe, Hoffnung, Freude, Verlangen mit einer solchen Stärcke da, daß die Begierde nicht sterben oder nachlassen kan.  
  Was sind einige Jahre mehr oder weniger in einem Leben, das aus Mühe, Arbeit und Unlust größtentheils zusammen gesetzet ist? Wir wissen, daß auch die Weisesten sich des Wunsches zu leben, nicht gantz entschlagen können. Allein solte diese Begierde sich lange bey ihnen aufhallen? Solte die Versicherung, daß man noch eine kleine Anzahl von Tagen in der Gemeinschafft eines geplagten Leibes würde zubringen können, die Stärcke haben, das Hertz in eine ausserordentliche Wallung zu bringen und eine ungemessene Freude zu erwecken? Und was ist doch gewöhnlicher?  
  Unsre Affecten sind da ganz und gar stille, wo sie am allermeisten arbeiten solten. Unschuld, Heiligkeit, und die Seeligkeit in jener Welt sind die allergrößten Schätze, die uns verheissen worden. Von Natur ist kein rechtes Verlangen nach denselben in uns. Wären wir zu einem
  {Sp. 897|S. 462}
  solchen wahren Verlangen durch die angebohrnen Kräffte fähig, so wären wir nicht ferne vom Reiche GOttes. Doch das ist gewiß, daß in uns allen eine Art einer natürlichen Sehnsucht nach diesen Dingen wohne, die durch Kunst etwas ermuntert werden kan.  
  Wer von denen , die Christen seyn wollen, wünschet nicht, so bald er gläubet , daß ein GOTT und eine künfftige Seeligkeit sey, jenem zu gefallen, und diese zu erhalte ? Und wie offt wird dieser stille Wunsch in den Stunden, die man zur Andacht aussetzet, oder durch das Anhören einer erbaulichen und weisen Rede angefrischet und aufgewecket , ohne daß deswegen eine wahre Heiligung und Bekehrung oder ein ernstlicher Eifer nach dem Reiche GOttes entstehet?  
  Jener Schrifftgelehrter lässet sich durch ein solches natürliches Verlangen der Seeligkeit dahin lencken,daß er bey unserm Heylande nach den Mitteln fraget, das ewige Leben zu erwerben. Luc. X, 25.
  Was wären wir. wenn zu dieser Begierde sich gleich eine Liebe GOttes ein Haß der Sünde, eine Furcht, dem HErrn zu misfallen, gesellete? allerdings würde diese todte und unmächtige Regung durch diese Affecten, Krafft gewinnen, und der Gnade GOttes, die uns angeboten wird, alle Zugänge des Hertzens öffnen. Allerdings würden sie die wiederspenstige Seele, die zu ihrem Unglücke mit den Zügen der Krafft des HErrn, die uns wieder gebähren will, streitet, zur Ruhe bringen, und in den Stand setzen, die Gnade nicht vergeblich zu empfahen.  
  Unser Unglück ist, daß sich nichts von einem solchen Affecte bey uns rühren will , dieses Verlangen zu bekräfftigen, so groß die Sachen sind, die wir uns zum Zwecke unserer Wünsche vorstellen. Der Wille , der in einem gewissen Verstände gut heissen kan, erkältet daher sogleich wieder. Die Gnade, die allein das rechte Wollen und Vollbringen würcken muß, kehret fruchtloß zurücke. Der Sünder bleibt im Tode, und würde, wenn er sich ermuntern könnte, bedauren, daß ihn seine Affecten in der Stunde stets völlig verliessen, in der sie ihm die meiste Hülffe erweisen solten.  
  Hierzu kömmt noch eines. Die unbändigen und unordentlichen Affecten verstellen die ohne dem heßliche Seele noch mehr, und machen den verdorbnen Menschen immer verderbter. Eph. IV, 22.
  Sie sind es, die den Verstand benebeln, und die Krafft der er noch geniesset, ersticken. Sie sind es, die den bösen Willen in seinen sträfflichen Neigungen verhärten, und ein heimliches Gifft der Seelen einflössen, wodurch die Begierden unterhalten, und bey der ersten Gelegenheit erwecket werden. Wer sich von ihnen treiben, und ohne Wiederstand lencken lässet, der wird endlich ungeschickt, die Wahrheit einzusehen, und entfernet sich völlig von der Hoffnung, aus seinem elenden Zustande heraus zu kommen. Der Geist GOttes ermahnet die Christen deswegen ernstlich, ihrer Gewalt durch die Gnade mit Nachdruck zu wiederstehen, und sich von ihrem Zwange, so viel es möglich ist. frey zu machen.
  • Röm.Vl, 12. VIII, 13. Gal. V, 24.
  Wir haben noch eines zu erwegen, das Verderben der Affecten in dem Menschen, wie er jetzt ist, vollkommen kennen zu lernen. Sie vergrössern durch ihre Gewalt und Hefftigkeit die Unart, in
  {Sp. 898}
  der wir gebohren werden. Sie machen aus Leuten, die der Welt noch etwas nützen könnten, unverständige Knechte von sich selber, die dahin lauffen, wohin sie von dem blinden Befehl der Lust gewiesen worden, und sich mit Fleiß in dem Abgrund vertieffen, woraus sie sich retten solten. Sie sind das , was eine hefftige Bewegung in einem siechen und abgezehrten Cörper ist, die insgemein die Kranckheit vermehret, und den Rest der Kräffte völlig wegnimmt. Muß man das nicht für recht böse und sündlich halten, was die Herrschafft der Sünden erweitert, und den Menschen immer untüchtiger macht, dem Ruffe der Gnaden, die ihn retten will, ja die Stimme der Vernunfft, der noch etwas sehen kan, Gehör zu geben?  
  Wir wollen jetzt den Schaden vorüber gehen , den diese Bewegungen in dem Leibe des Menschen, und in dem gantzen Leben desselben stifften. Er ist jederman aus der Erfahrung genugsam bekannt. Den allgemeinen Beweiß davon , daß der Mensch durch die Hefftigkeit der Lüste und Affecten stets verschlimmert werde, kan man ans der Schrifft nehmen. Paulus redet die Epheser mit diesen Worten an: So leget nun von euch ab , nach dem vorigen Wandel, den alten Menschen, der durch Lüste in Irrthum sich verderbet. Eph. IV, 22.
  Man siehet gleich , daß in dieser Stelle diese Lehre enthalten sey: Der alte Mensch verderbet sich, oder wird verdorben durch die verführerischen Lüste, durch die Lüste, die verführen. Diese Übersetzung wird niemand befremden, der geschickt ist, von der Schreibart des H. Pauli zu urtheilen, und seine Worte in der Sprache zu lesen, in der sie geschrieben sind. Alle vernünfftige Ausleger sind einig, daß die Worte, welche Lutherus gegeben hat: Lüste in Irrthum; eigentlich dem Verstande nach übersetzt werden müssen: Lüste der Verführung, Lüste des Irrthums, oder besser, nach unsrer Sprache zu reden , betrügliche, verführerische Lüste.  
  Ein jedweder verstehet die Krafft dieses Nahmens, der den Lüsten hier beygeleget wird. Wer weiß nicht, daß die Lüste der Natur uns in Irrthum, in Elend, ins Verderben zu stürtzen, oder zu verführen pflegen ? Paulus redet von den Lüsten oder von den Begierden ; Und hier wird von den Affecten gehandelt, die von den erstern unterschieden sind. Gehöret dieser Ort denn hierher?  
  Diesen Zweifel zu heben, muß man mercken, daß der heilige Paulus zwar zuweilen die Lüste und Affecten durch ihre eignen Nahmen unterscheide, aber auch offt die Wörter, womit die Griechen die Lüste und die Affecten zu benennen pflegen, mit einander verwechsele. Paulus hat hierinnen die besten unter den Griechen zu Vorgängern.  
  Man muß weiter mercken, daß Paulus an den meisten Orten, wo er der Lüste blos erwehnet , gewaltige und hefftige Lüste meyne, die, so offt sie nur erreget werden, sich durch Affecten offenbahren. Dieses verstehet sich ohne Beweiß. Wer kan es glauben, daß Paulus so starck gegen solche Lüste eifern solte, die nie recht zur Krafft kommen können, und in ihrer Geburt wiederum ersticken ?  
  Auf diese beyde Anmerckungen gründet sich die Regel: Wo der Geist GOttes der Lüste und Begierden erwehnet, da müssen
  {Sp. 899|S. 463}
  meistens allezeit die Affecten mit verstanden werden , und wo allein der Affecten gedacht wird, da müssen die Lüsten , aus welchen die Affecten entstehen , nicht ausgeschlossen werden. Der Ort, der jetzt erkläret wird, ist so beschaffen, daß man aus der Sache selber abnehmen kan, daß diese Regel hier statt habe. Es wird von Lüsten oder Begierden geredet, die den alten Menschen, der in sich böse ist, noch mehr verderben. Wird man solches von solchen Begierden verstehen können, die keine Affecten nach sich ziehen, und schwerlich so weit gebracht werden, daß sie in Hitze gerathen ?  
  Das übrige, so zur Erklärung dieser Stelle nöthig ist, betrifft das Wort Verderben. Die Ausleger können sich nicht recht vergleichen, in welchem Verstande sie dasselbe hier nehmen sollen. Allein die meisten glauben mit guten Grunde, daß das Griechische Work phtheirein hier seine gewöhnlichste Bedeutung behalte, und nichts mehr heisse, als etwas verschlimmern , und in einen schlechten Zustand setzen.  
  Paulus vergleicht die unreine und sündliche Begierde, die von Natur in uns wohnet, mit einem Menschen, der durch das Alter und andere Dinge kranck, elend, und der Verfaulung nahe ist. Und die bösen und unordentlichen Lüste und Affecten betrachtet er, wie die Dinge, welche diesen angesteckten und verdorbenen Menschen gantz und gar verwüsten.  
  Man weiß, daß solche Leiber, die aus unreinen und zur Verwesung geneigten Theile bestehen, wenn sie in eine innwendige Bewegung gebracht werden, immer mehr angezündet, stinckend gemacht, und zum völligen Verderben zubereitet werden. Ein solcher Leib ist gleichsam das Hertze des Menschen. Die Gewalt der Lüste und Affecten erhitzet das krancke Wesen desselben mehr und mehr, und machet dadurch, daß sein elender Zustand vergrössert wird , und die ohnedem krancke und unreine Natur auch den Schein des Lebens verliehret.  
  Die Wahrheil dieser Lehre wird aus dem erhellen, was von dem Schaden, den die Affecten den Kräfften der Seelen insonderheit zufügen, gemeldet werden soll. Die Krafft des Verstandes, die den Willen regieren soll, wird durch diese Bewegung allezeit mehr geschwächet und verfinstert. Alle Menschen werden es inne, daß ein Affect, der nur mittelmäßig starck ist, dem Verstande alle Macht benehme, seine Begriffe in Ordnung zu bringen, dieselben deutlich zu betrachten, und gründlich darüber zu urtheilen.  
  Es ist nicht anders, als wenn eine Finsternis in uns entstünde, so bald eine rechte erweckte Lust unser Hertz in eine gewaltige Bewegung bringt. Der weiseste und beredteste, der einen Menschen, so von Furcht und Traurigkeit oder Hoffnung recht getrieben wird, zur Vernunfft und Überlegung führen will, verliehrt alle Frucht seiner Arbeit und Bemühung. Man hat keine Vernunfft, wenn man einem Affecte Raum über sich gelassen: Und die Vernunfft anderer Menschen , die uns sonst dienen kan, wenn unsere eigene ihre Hülffe versaget, kan den Ort nicht finden, wodurch sie in ihre Seele dringen will.  
  Was nützet es, daß Paulus mit der grösten Gelassenheit und Ordnung zu einer erbitterten und aufgebrachten Gemeine
  {Sp. 900}
  redet, und seine Unschuld mit den kläresten Grün- den darthut ? Der Zorn machet es, daß sie taub und blind ist, und mit einem unbändigen Geschrey, mit Staubwerffen und andern Zeichen der Raserey antwortet. Apostelg. XXll, 22. 23.
  Die Sinnen selber verrichten. in diesem Zustande ihr Amt nicht mehr, und überliefer ihre gantze Kraffrt in die Herrschafft des wütenden Affects. Man siehet und höret nichts anders , als was dieser haben will. Der gestern ein Buch, das die Vernunfft selber aufgesetzt, mit Bedacht gelesen , und mit einer Art der Entzückung gepriesen, siehet heute, da die Traurigkeit sich seiner Seelen bemeistert, nichts als Unordnung und Schwachheit darinnen. Die Wörter und Buchstaben selber werden seinen Augen, so zu reden, unkenntlich. Er übersiehet die Verbindung der Gedancken und Sätze, und meynet eine Schrifft zu lesen, welche ein blinder Zufall auf das Papier geworffen, oder ein irrender Verstand mehr verlohren, als hervor gebracht hat. Wir sammeln, wenn diese Hitze sich etwas geleget, einige Kräffte zu dencken und zu urtheilen wieder: aber es währet lange, ehe alles wieder in seine Ord­ nung kömmt. Und was gehen indessen nicht vor Fehler für.  
  Was noch mehr? Es bleibet fast stets, wenn der Affect hefftig gewesen, ein gifftiger Nebel zurücke, der den Verstande von einer gewissen Seite den freyen Gebrauch seiner Krafft benimmt, wo er ihn nicht gar untüchtig darzu machet. Ein jeder hefftiger Affect nimmt etwas von der Schärffe unsers Verstandes hinweg, indem er die Einbildung von einer gewissen Seite verderbt, und widerspenstig machet. Je mehr Affecten auf einander folgen, je tieffer wurtzeln diese Mängel ein; je vielfältiger die Ursachen sind, wodurch sie erwecket und gerühret werden, je enger wird die Krafft unsers Verstandes zusammen gezogen.  
  Eben so viel Unheil verursachen diese Bewegungen in der andern Krafft der Seelen, welche der Wille heisset. Die Vollkommenheit des Willens bestehet darinnen, daß die Begierden desselben der Vernunfft gehorchen und nicht eher ausbrechen , bis sie von derselben gut geheissen worden. Wie viel ist von dieser Vollkommenheit übrig, nachdem wir die erste Unschuld eingebüsset? Was die Krafft hat, die Neigungen und Begierden des Willens in Ordnung zu bringen, und der Vernunfft mehr und mehr zu unterwerffen, das befördert die Vollkommenheit desselben. Was hergegen darzu Gelegenheit giebt, daß diese Neigungen leichter und geschwinder aufwachen, daß sie mehr Stärcke gewinnen, daß sie freyer und ungehinderter herrschen , und gegen die Vernunfft toben, das verderbt den Willen, und vergrössert seine natürliche Knechtschafft.  
  Die Erfahrung hat längstens alle, die sich und andere Menschen zu kennen gesucht, überzeuget, daß die Affecten das unseelige Vermögen haben, dieses letztere auszurichten, und die Gewalt und unbändige Herrschafft der streitenden und unruhigen Begierden zu vermehren. Es braucht mit der Zeit fast gar keiner Vorstellung mehr, die Begierde in Bewegung zu bringen. Sie findet sich gleichsam selbsten.
  {Sp. 901|S. 464}
  Ein Winck, ein Wort,ein nichtswürdiger Einfall, eine geringe Gleichheit gewisser Dinge,- die in der That ungleich sind, eine Falte des Gesichts, ja nichts zuweilen macht sie lebendig. Man sieht nichts mehr in solchen Umständen. Man muß den Feind wüten und toben lassen, der insgemein einen neuen Affect zu Hülffe nimmt, sich in seiner Herrschafft zu befestigen und nicht eher ruhet, bis er in einer sündlichen That seine unbändige Hitze abgekühlet.  
  Zuletzt bleibt der Mensch kein Mensch mehr. Er muß sich lencken lassen, wohin ihn die Begierde führen will, und kan nicht eher ruhen, bis dieselbe den Leib und die Geister so weit ermüdet und verzehret hat, daß sie ihr keinen Unterhalt weiter geben können.  
  Die Neigungen und Begierden, die ihren Sitz in dem Willen haben,sind eben so wenig rein und richtig, als der Wille selber, zu dem sie gehören. Die besten und reinesten Begierden, die der HErr in die Seele des Menschen gepflantzet, sein wahres Glück zu befördern, sind verlohren. Wer von denen Menschen weiß mehr von einer wahren Liebe zu GOtt? Wer weiß mehr von einem reinen Verlangen ihm zu gefallen, und sich täglich vollkommner zu machen ? Wer weiß mehr von einer Begierde, andern, die ihm der Natur nach ähnlich sind, zu dienen, und zu einer rechtschaffenen Glückseeligkeit und Zufriedenheit behülfflich zu seyn? Wer weiß endlich von einer rechten Sehnsucht, den allgemeinen Wohlstand der Welt und der Menschen recht zu bauen, und zu befestigen ?  
  Es halten sich noch in der Seele des Menschen Begierden auf, die vor sich und in ihrer Natur nicht sträflich oder sündlich sind. Es sind Begierden bey uns unsern Leib zu erhalten und zu erquicken, unsern Geist zu vergnügen, unser Geschlecht fortzupflantzen.  
  Es ist bey den meisten Menschen ein Verlangen, sich Liebe und Ansehen bey andern zu erwerben, und von Mangel und Elend befreyt zu leben. Es sind Neigungen zu gewissen Gewerben, Verrichtungen, Lebens-Arten, Sitten in dem Menschen. Diese Neigungen,welche an und vor sich selbst unschuldig sind, hat der Fall gantz verunreiniget,u. in Unordnung gebracht. Sie sind in dem verderbten Menschen theils mit bösen und in sich sündlichen Neigungen vereiniget, theils übel unter einander gepaaret und verbunden.  
  Dieß ist der Ursprung von dem Streite der Begierden, wodurch wir öffters so empfindlich beunruhiget werden. Wären sie von dieser üblen Beschaffenheit befreyet, so wären sie deswegen nicht unsträflich. Sie fallen einmahl auf solche Dinge, die zu dem Zwecke nicht dienen, worzu sie gegeben sind. Sie schweiffen vors andre weit über das Ziel, und halten weder Maasse noch Ordnung. Sie haben alle, Drittens, eine Absicht, die mit den Absichten GOttes nicht übereinstimmet, und machen den Menschen, in dem sie wohnen, zu einem Götzen, dem sie alleine zu dienen schuldig wären. 1 Joh. II, 10.
  Diesen allen ungeachtet, könnten wir uns doch noch einer gewissen Art der Glückseeligkeit rühmen , wenn diese unruhigen Begierden, die wir nicht bändigen können, in unsrer Seele blieben, und ihre Macht bloß anwendeten, die Ruhe unsers Gemüths zu stöhren. Sie gehen weiter. Sie sind mit der Herrschafft über unsern Geist nicht vergnügt. Sie wollen
  {Sp. 902}
  völlig befriediget seyn, und ruhen nicht eher, bis wir ihrem Triebe Genüge geleistet, und die böse That begangen haben, wodurch sie können gesättiget werden. Jac. l, 15.
  Hierdurch wird unser geistliches Elend vollkommen. Wir behalten, wenn die Begierde vergnügt, und die Sünde vollzogen ist, ein beängstetes Hertz und verwundetes Gewissen: Wir häuffen uns Quaal und Unruhe auf die Stunden, in denen wir wieder zu uns selber kommen: Wir werden an dem Verderben und Unglück andrer Menschen schuldig, und stürtzen diese in eine zeitliche Unlust, andre gar in die ewigen Straffen, die die göttliche Gerechtigkeit den Sündern bereitet hat. Wie groß ist also die Macht auch dieses geistlichen Feindes?  
  Die Bücher des neuen Bundes warnen uns an sehr vielen Orten für demselben, und ermuntern uns zum Streite wider unser Fleisch. Paulus sagt: Welche aber Christo angehören, die creutzigen (oder haben gecreutziget, wie das Griechische lautet) ihr Fleisch sammt den Lüsten und Begierden. Dieser Ort ist der deutlichste von denen, in welchen von den Stücken, die zu dem Verderben des Willens gehören, gehandelt wird.  
  Paulus unterscheidet drey Dinge: Das Fleisch, die Lüste dieses Fleisches und die Begierden von einander. Das heisset recht genau und eigentlich den Zustand des verdorbenen Menschens vorstellen.  
  Fleisch ist die allgemeine und natürliche Neigung zu den Sünden und bösen Begierden, die in allen Menschen sich aufhält. Diese Neigung kan leicht durch eine Vorstellung der Sinnen oder der Einbildung erwecket und rege gemacht werden.  
  Alsdenn entstehen die Begierden, epithymiai. Die Begierden erzeugen die Affecten. Diese hat Lutherus in seiner Übersetzung Lüste genennet. Das Griechische Wort, welches er so giebt, ist dasjenige, so einen Affect eigentlich bedeutet.  
  Diese drey Dinge werden von denen gecreutziget, die Christi sind, oder zu seinem Hause gehören, wie man füglich übersetzen kan. Dieses Wort schliesset ein Bild in sich, das von den Übelthätern hergenommen ist, die an einem Creutze ihr Leben beschliessen müssen. Und wenn man die Sache die Paulus vorstellet, durch ein Gleichniß erklären solte, so würde man mit allem Nachsinnen kein geschickteres erfinden können.  
  Man kan nicht sagen, daß der heilige Mann den Tod des Creutzes nach allen seinen Umständen vor Augen gehabt, da er dieses Wort hingesetzet, und uns also ein Recht gegeben, alles das, was bey einer Creutzigung ehedem vorgegangen, mit der Bemühung der Gerechten, ihre Lüste zu dämpffen, zu vergleichen. Eben so wenig kan man es wissen, ob seine Meynung gewesen, die bösen Begierden in einem so weitlaufftigen Verstande denen Missethätern, die man an einem erhöheten Pfahle sterben liesse, entgegen zu stellen, daß wir alle Eigenschafften eines solchen Unglückseligen auf die unartigen Lüste unsers Hertzens ziehen kön­ nen.  
  Man hat in Erklärung dieser Bilder nur auf die Haupteigenschafften derselben Achtung zu geben. Der Hauptbegriff des Creutzigens ist dieser: Einen Menschen fest an ein Holtz nageln oder binden, damit er langsam und allgemählig an demselben sterben möge. Und es ist genung, auf diesen allein an diesem Orte zu sehen, und die übrigen Um-
  {Sp. 903|S. 465}
  stände, die bey dieser Todes-Art vorkommen, zurücke zu setzen.  
  Paulus will also dieses sagen: Wie der Leib JEsu an ein Creutz genagelt worden, und an demselben endlich gestorben ist: Also sind die, welche ihm angehören, verbunden, die bösen Lüste und Affecten, so zu reden, feste zu binden, oder alles, was sie in Bewegung und Arbeit bringen kan, wegzunehmen, damit sie endlich völlig ersterben, und in ihnen alle Kraffr und Stärcke verliehren mögen.  
  Sieht nicht iederman, daß das Bild einer Creutzigung sich vortrefflich zu der Sache schicke,die hier eingeschärffet werden soll ? Es stellet die Bemühung der Heiligen gegen ihre Unart recht lebhafft und nachdrücklich vor. Wir binden zuerst unsre Lüste. Wir nehmen ihnen durch den Geist, der uns gegeben ist, ihre alte Gewalt und Stärcke. Indeß leben sie noch, wiewohl schwächer, denn vorhin. Sie arbeiten sich los zu wickeln und zu ihrer vorigen Gestalt zu gelangen. Die Gnade fesselt sie immer mehr. Und sie verliehren dadurch immer etwas mehr von ihrem Leben, bis sie endlich, wie ein Gecreutzigter, nach vielen vergeblichen Bemühungen, langsam dahin sterben.
  • Carpzovs Syst. Theol. Dogm. T. II.
  • Mosheims Sittenn-Lehre …
  • Buddei Theol. mor.

vorhergehender Text  Teil 4 Artikelübersicht Teil 6  Fortsetzung

HIS-Data 5028-40-834-1-05: Zedler: Streit [5] HIS-Data Home
Stand: 25. August 2016 © Hans-Walter Pries