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Zedler: Vermuthung HIS-Data
5028-47-1335-6
Titel: Vermuthung
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 47 Sp. 1335
Jahr: 1746
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 47 S. 681
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Folgender Artikel: Vermuthungen
Siehe auch:
Hinweise:

  Text Quellenangaben
  Vermuthung oder Muthmassung, Lat. Praesumtio oder Conjectura, ist eigentlich nichts anders, als ein Schluß, so von dem, was gemeiniglich geschicht, hergenommen und vor wahr gehalten wird, siehe hierbey den Artickel: Muthmassung, im XXII Bande, p. 1583.  
  Weil nun also insgemein das vermuthete vor wahr gehalten wird, so lange nicht das Gegentheil bekannt oder erwiesen ist; so ist denen Rechten nach derjenige, so die Vermuthung vor sich hat, mit dem Beweise zu verschonen l. 3. 9. 12. ff. d. prob. et praesumt.
  Weil es aber doch nicht allemahl die Wahrheit ist, sondern nur davor gehalten wird; so muß auch der Beweis des Gegentheils zugelassen werden. l. 24. ff. eod.
  Gleichwohl macht man hierbey die Ausnahme, daß, indem man die Vermuthungen in die von dem Richter gemachte, und die in Rechten gebilligte theilet, man zwar bey der erstern allemahl, bey der andern aber nur zuweilen den Beweis des Gegentheils zulässet; dahingegen in gewissen andern Fällen derselbe gantz ausgeschlossen seyn soll.  
  So soll  
 
  • ein Vormund, der im Inventario seines Mündels Vermögen vor grösser als es ist, angegeben, schlechterdings darnach Rechnung ablegen
l. f. C. arb. tut.
 
  • ein Weib, das nach zwey Jahren ihre Bürgschafft wiederholet, schlechterdings bezahlen,
l. 22. C. ad SC. Vellej.
 
  • der sich mit Bedingung verlobende nach dem Beyschlaffe die Person schlechterdings ehlichen,
  • c. 6. X. d. cond. appos.
  • c. 12. X. d. Praesumt.
  • c. 30. X. d. sponsal.
 
  • ein stehender Ehe erzeugtes Kind schlechterdings vor ehlich gehalten werden,
l. 11. §. 9. ff. ad L. Jul. d. adult.
 
  • der Vater, so zu des Sohnes Darlehen stille geschwiegen, schlechterdings bezahlen,
l. 16. ff. ad SC. Mac.
  daß also diese letztere Art der Vermuthung nicht mehr als eine blosse Vermuthung, sondern vielmehr eine rechtliche Verordnung ist, wie es im Zweiffel gehalten werden soll.
  • l. 25. ff. d. stat. hom.
  • l. 1. 5. f. l. 3. ff. d. agnosc. lic.
  Von den rechtlichen Vermuthungen sind folgende Exempel, darunter leicht alle andere gezogen werden können:  
 
I) daß ein natürliche Affect allezeit zu vermuthen, und daher
 
 
 
1) ein Vater den Kindern am besten rathe,
l. 22. §. 4. ff. ad L. Jul. d. adult.
 
 
2) dieselben zu ihrem Besten züchtige,
a. l. 5. ...
 
 
3) dem Sohne die Kosten zum Studiren,
l. 50. ...
 
 
4) die Mutter den Unterhalt schencke,
l. 34.
 
 
5) der Vater die Tochter von dem Seinigen und nicht von ihren eigenen Gütern ausstatte,
l. f. C. d. dot. prom.
 
 
6) ein jeder auch vor seine Kinder und Erben contrahirt,
l. 9. ff. d. prob.
 
II) daß keine Änderung zu vermuthen, und daher
 
 
 
1) des Menschen Leben bis auf 100 Jahre zu
 
  {Sp. 1336}  
 
 
  vermuthen,
l. 56. ff. d. usufr.
 
 
2) der Vater oder die Mutter eher, als der erwachsene Sohn, gestorben,
l. 9. ...
 
 
3) ) wer einmahl böse gewesen, in der dergleichen Fällen noch davor zu halten,
c. 8. ...
 
 
4) der in der Miethe bleibende von neuem contrahirt habe,
l. 13. ...
 
 
5) eine Sache eher vor Erbe, als Lehn, zu halten,
  • 2. ff. 26. §. 1.
  • und Dec. 37.
 
III) daß allemahl das beste zu vermuthen. So ist diese Vermuthung
 
 
 
1) vor den Nuncium in dem, was sein Amt angehet,
l. 5. ...
 
 
2) vor die Richtigkeit einer Urkunde,
§. 11. ...
 
 
3) vor einen jeden Handel, daß er richtig geschlossen sey,
l. 5. ...
 
 
4) daß niemand das Seinige wegwerffe,
l. 25. ...
 
 
  Daher aus langer Bezahlung der Zinsen ein Capital vermuthet wird,
l. 6. ...
 
 
  und daß der, so geringere Zinsen angenommen, die höhern erlassen habe,
l. 13. ...
 
 
  daß ein Schuldner, der drey Jahre nach einander Quittungen hat, auch die vorhergehenden Steuern entrichtet habe,
l. 3. ...
  Zu Zeiten dienet auch die Vermählung an statt eines Beweises, welches aber andere nicht zulassen wollen, sondern halten davor, daß dieselbe nur von dem Beweiß befreye, und verursache, daß das Gegentheil denselben auf sich nehmen müsse. Es lassen sich aber beyde Meynungen gar leicht mit einander vergleichen. Denn wenn man den Beweiß vor dasjenige nimmt, wodurch man dem Richter Glauben zu machen suchet; so ist es wahr, daß die Vermuthung nicht als ein Beweiß betrachtet werden kan. Verstehet man aber durch den Beweiß dasjenige, dessen sich der Richter bedienet, welchen er von denen Partheyen am meisten glauben könne; oder welches eine von den Partheyen anführet, um zu zeigen, daß sie nicht Ursache habe einen Beweiß zu führen; so ist nicht abzusehen, warum es nicht als eine Art des Beweises solte betrachtet werden können.  
  Sonsten wird diese Materie insgemein sehr verwirrt von denen Rechts-Lehrern vorgetragen, wie solches sehr gelehret vom Thomasio in Diss. de praesumt. allodialit. ist gezeiget worden, wohin wir den Leser Kürtze wegen verweisen wollen.  
  Es wird aber dieselbe, wie bereits gedacht, insgemein eingetheilet, daß sie entweder Juris oder hominis sey. Jene ist in denen Gesetzen gegründet, wenn nehmlich diese aus gewissen Wahrscheinlichkeiten etwas schliessen und dasselbe so lange vor wahr halten, biß das Gegentheil ist erwiesen worden. Diese aber ist in denen Gesetzen selbst nicht bestimmet, sondern wird nur aus unterschiedenen Umständen, die dem Richter eine Wahrscheinlichkeit machen, geschlossen.  
  Unter diesen beyden will man den Unterscheid machen: Jene befreyet  
 
1) von Führung des Beweises, nicht aber diese
2) In jenen wird vor denjenigen, gesprochen, welcher die Vermuthung vor sich hat nicht aber in diesen.
3) Jene machet, daß der Gegentheil beweisen muß, nicht aber diese.
4) Jene ist an statt eines Beweises, diese aber verursachet nur, daß zu Zeiten entweder der Reinigungs- oder der Erfüllungs-Eyd statt hat.
Coccejus de direct. probat. negat.
  Es hat aber auch die Praesumtio juris oder die in denen Rechten und Gesetzen gegründete Vermuthung ihre Grade, nach-  
  {Sp. 1337|S. 682}  
  dem nehmlich die Wahrscheinlichkeit näher mit der Wahrheit übereinkommet, oder von derselben entfernet ist. Thomasius de fide Juridica
  Dieweil aber alle Vermuthung sich in der Wahrscheinlichkeit gründet, diese aber von der Natur einer Sache genommen ist, das ist, wenn man bey vielen einzelen Dingen, die unter einer Vorstellung begriffen sind, einerley Beschaffenheit antrifft; so wird in Zweiffel geschlossen, daß sie auch bey den andern sich befinden lassen, biß man das Gegentheil behauptet. Denn es muß zwar daraus eine Wahrscheinlichkeit entstehen, weil es sehr wahrscheinlich ist, daß eine einzele Sache eine solche Natur habe, als viele andere; aber es ist doch nicht unstreitig wahr, weil mich mein Begriff zugleich versichert, daß die Sache, von der die Rede ist, ohne Verletzung des Wesens doch sich anders verhalten könne. Denn es ist gewiß, daß die Proposition, die mehrentheils eintrifft, der propositioni universali am nächsten kommt, sie bleibet aber dennoch nur particularis, wenn nur eine Instantz darauf gegeben werden kan.  
  Jemehr nun einzele Sachen seyn, bey welchen ein solcher Begriff veriificiret werden kan, desto wahrscheinlicher ist derselbe; je weniger aber derselben seyn, desto unwahrscheinlicher lässet sich derselbe bey andern vermuthen. Derowegen schliesset man auch daraus in denen Gesetzen. Z.E. Ein jeder hat die Vermuthung, daß er geschickt zum Ehedtande sey. Also wird ferner die Jungferschafft vermuthet; die Kinder, daß sie lebendig auf die Welt gekommen seyn u.d.g.  
  Ja eben daraus fliesset, daß man nicht leicht die Veränderung einer Sache vermuthet; also muthmasset man z.E. von dem vergangenen auf das zukünfftige; die vorher geführte Aufführung verursachet, daß man entweder eine gute oder böse Vermuthung vor einem hat.  
  Ja eben darauf gründet es sich, wenn man saget, daß allezeit das beste müsse gemutmasset werden. Also hat ein jeder Richter die Vermuthung vor sich; vor einen jeden Besitzer wird gemutmasset, daß er die Sache rechtmäßig besitze; der mala fides oder Betrug wird niemahls bey einem Besitzer vermuthet, sondern muß bewiesen werden etc.  
  Fraget man aber, welche Muthmassung der andern vorgezogen werden möge? So kan man darinnen keine allgemeine Regul geben, sondern weil die gantze Vermuthung auf eine Wahrscheinlichkeit ankommt, diese aber aus der Natur der Sache genommen wird; so muß derowegen ein Richter die Natur der Menschen, und die Beschaffenheit der Dinge wissen, und also selbsten sehen, was wohl am meisten vermuthet werden könne.  
  Ausser diesen hat man noch eine andere Muthmassung, welche von denen Canonisten Praesumtio Juris et de Jure genennet wird, und zwar meynen sie, daß diese gar keinen gegenseitigen Beweiß zulasse. Wie wenig man aber auf alle diese Eintheilungen bauen könne, ist ebenfalls von oberwehntem Thomasio in Diss. de praesumt. allodial. zur Gnüge gezeiget worden.  
  Nach denen Chur-Sächsischen Rechten insbesondere muß wider ein Testament keine Präsumtion oder Vermuthung vorhanden seyn, daß es Schwachheit halben nicht freywillig gemacht worden. Einem auf Pflicht sitzenden kömmt die Vermuthung, daß er  
  {Sp. 1338}  
  in Krafft der derselben treu und aufrichtig handele; Decision 3.
  Einem Hauswirthe aber diese, daß das bey ihm entstandene Feuer nicht durch seine Verwahrlosung ausgekommen, zu statten. Decision 80
  Wenn Supplicanten die Vermuthung vor sich haben, daß sie ihre Schrifften selbst verfassen können, sind solche auch ohne eines andern Concipienten Unterschrifft anzunehmen. Dippoldiswaldisches Mandat
  Übrigens aber soll auch auf blossen Verdacht, Argwohn und Vermuthung, ohne vorhergehendes Erkänntniß, Beweis und gehörte Ausführung der Unschuld, mit der Todes-Straffe nicht verfahren werden. Decision 77
  Schließlich wollen wir noch eine curieuse und besondere Frage berühren, was nehmlich wohl vor Vermuthungen in Ansehung der Ketzerey statt finden, und wodurch man sich derselben verdächtig machen könne? Und dienet hierauf mit wenigen zur Antwort: Die Canonisten selbst haben durch ihre viele Distinctionen die Sache so verwirrt gemachet, daß man kaum klug daraus werden kan.  
  Und zwar ist in dem Verbrechen der Ketzerey der Argwohn oder die Vermuthung dreyerley, eine geringe, starcke und sehr grosse. In die erste verfället man, wenn einer z.E. verbotene Zusammenkünffte besuchet u.d.g. Der andern macht man sich theilhafftig, wenn man z.E. wegen seines Verdachts, Rede und Antwort zu geben ist citiret worden, und zu gesetzter Zeit nicht erscheinet, dem Inquisitions-Gerichte verhinderlich fället, denen Ketzern mit Rath an die Hand gehet, ihnen beystehet, Instruction giebet, wie sie sich bey der Inquisition aufzuführen haben etc. Die dritte aber findet statt, wenn einer z.E. etwas wieder die Religion gesprochen hat etc. Und es ist nicht möglich, alle Arten derselben anführen zu können.  
  Nach diesen dreyen Graden sind nun auch die Straffen eingerichtet. Bey der ersten hat die Purgatio canonica statt, bey der andern muß er alle Ketzereyen abschwören, bey der dritten aber wird er der weltlichen Obrigkeit übergeben und als ein Ketzer verbrannt.  
  Die andern Umstände, so darbey vorgehen, zu erzehlen, wäre zu weitläufftig, wovon absonderlich bey dem Limborch in Hist. Inquisit. … weitläufftig kan nachgelesen werden. Besondere Abhandlungen de Praesumtionibus haben geschrieben:
  • Andreas Alciatus, und Jacob Menoch,
  • de Conjecturis Ultimarum Voluntatum der Cardinal Mantica,
  • und Böhmer in Disp. de Collisione Praesumtionum.
    Sonst aber können hierbey auch noch insbesondere nachgesehen werden
  • Paul Christinäus Vol. III.
  • Ludwig Gilhausen in Arb. Crim. …
  • Megger in Consil. Crim. …
  • Rosbach in Proc. Civil. …
  • Matthäus de Afflictis … ibique Ursillos in Addit.
  • Riccius in Coll. …
  • Speidel in Bibl. Jur. Vol. II. v. Praesumptio … nebst vielen andern daselbst angezogenen Rechts-Lehrern.
     

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Stand: 27. Februar 2013 © Hans-Walter Pries