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Zedler: Vernunft [3] HIS-Data
5028-47-1390-1-03
Titel: Vernunft [3]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 47 Sp. 1408
Jahr: 1746
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 47 S. 717
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Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen
  • : Absatz in der Vorlage vorhanden

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Übersicht
II.) SUBJECTIVE (Forts.)
  Vorteil der Vernunft vor der Erfahrung
  Nutzen der Vernunft
  Feinde der Vernunft
  Warum einige auf die Vernunft schelten
  Erkenntnis, so aus der Vernunft entstehet
  Wenn die Vernunft lauter ist
  Der Gegenstand oder das Object der Vernunft
  Wenn die Vernunft verderbet?
  Subject der Vernunft
  Ob die Vernunft so ein edles Geschencke des Himmels sey, daß wir dadurch vor allen andern Geschöpffen, die dieselbe entbehren müssen, die allerglückseeligsten zu preisen. seyn?

  Text Quellenangaben
  Vorteil der Vernunft vor der Erfahrung.  
  Die Erkenntnis durch die Vernunfft hat überhaupt diesen Vortheil vor der Erfahrung, daß man jene mehr in seiner Gewalt hat, und dazu gelangen kan, wenn es uns gefället: Hingegen bey der Erfahrung erst warten muß, biß sie uns vorkommet. Man kan aber nicht gleich eine Gelegenheit haben, da sich dasjenige ereignet, was man zu erfahren verlanget.  
     
  Nutzen der Vernunft.  
  Aus diesem, was bißher gesagt worden, erhält der Nutzen der Vernunfft sattsam; es kann aber derselbe auch erwiesen werden. Denn da  
  {Sp. 1409|S. 718}  
  die Vernunft eine Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten ist; so gelangen wir dadurch zu deutlicher Erkenntnis der Wahrheiten und sind geschickt aus einigen erkannten Wahrheiten andere unbekannte zu schliessen, das ist, neue Wahrheiten zu erfinden. Also können wir die Vernunft nicht schelten, wenn wir verstehen, was sie ist.  
     
  Feinde der Vernunft.  
  Gleichwohl haben einige von denen Herren Theologen, die in die wahre Weltweisheit nicht sogar tief eingedrungen, von der Vernunft allzu gefährliche Gedancken. Sie meynen, sie sey in Grund verdorben, sie tauge ganz und gar nichts, sie träte öffters aus ihren Schrancken, sie sey der Heiligen Schrifft zuwider, und könnte mit derselben nicht bestehen. Jedoch diese sind ungegründete Urtheile.  
  Sie hat freylich von ihrer Vollkommenheit ein grosses verlohren, inzwischen ist das Göttliche Ebenbild auch in diesem Stücke nicht so gantz ausgelöscht, daß nicht die meisten Menschen meistentheils Wahrheiten zu begreiffen, zu erfinden, und zu beurtheilen geschickt seyn solten. Es ist die Vernunft annoch, wie wir sie haben, ein edel Gnaden-Geschencke GOttes, welches, wie alle gute und vollkommene Gaben von dem Vater des Lichts von oben herab kommt. Die Vernunft als Vernunft, da sie nicht mit falschen Meynungen angesteckt, tritt niemahls aus ihren Schrancken, sondern bemühet sich die Wahrheiten zu erkennen und zu beurtheilen, in so weit es ihr möglich ist; wo sie aber siehet, daß ihrer Erkenntnis Grentz-Steine gesetzet sind, so gehet sie nicht weiter. Die Vernunft kan mit der Heiligen Schrift sehr wohl bestehen, indem sie einerley Urheber haben, und also einander unmöglich zuwider seyn können.  
     
  Warum einige auf die Vernunft schelten.  
  Diejenigen aber, welche die Vernunft schelten, nehmen entweder das Wort in einem unrichtigen Verstande, und verstehen dadurch bald einige Irrthümer, so man in natürlicher Erkenntnis heget; bald Unvernunft im menschlichem Wandel; bald noch etwas anders; oder sie bilden sich ein, als wann die Vernunft den Glauben zuwieder wäre und ihn hinderte. Bey ihrem Begriffe von der Vernunft, und bey ihrer Meynung haben sie recht: allein es muß nicht auf die Vernunft gedeutet werden, beschrieben worden, und wie es die tägliche Gewohnheit zu reden mitbringet.  
     
  Erkenntnis, so aus der Vernunft entstehet.  
  Weil die Vernunft eine Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten ist, die Wahrheit aber erkannt wird, wenn man den Grund verstehet, warum dieses oder jenes seyn kan; so zeiget uns die Vernunft, warum dieses oder jenes seyn kan. Und also kommet von ihr die Erkenntnis des Weltweisen: gleichwie die gemeine Erkenntnis von der Erfahrung kommet. Wie nun die Vernunft zur gründlichen Erkenntnis der bereits erfundenen  
  {Sp. 1410}  
  Wahrheiten unentbehrlich ist: also ist sie auch sehr behülflich zu Erfindung neuer Wahrheiten, die uns oder andern biß dahin noch nicht bekannt gewesen. Denn indem wir durch die Sinne etwas empfinden und mit Beyhülffe eines allgemeinen Satzes eine Folgerung herausziehen: so ist dieser Schluß sehr offt eine neue Wahrheit, die wir vorher nicht gewust haben.  
  Wer nun eine Fertigkeit besitzet, dergestalt aus bekannten Wahrheiten neue herzuleiten, der besitzt die Erfindungs-Kunst. Es ist auch gewiß und ausgemacht, daß alles, was die Vernunft klar, deutlich und untrüglich erkennet, wahr sey, und daß man folglich keine weitere Ursache daran zu zweifeln habe. Der Beweis davon ist leichte. Denn da GOtt die Ursache aller Wahrheiten ist und uns nicht betrügen kan; so muß nothwendig folgen, daß weil er uns die Vernunft gegeben, alles dasjenige wahr sey, was dieselbe mit völliger Deutlichkeit einsiehet und begreiffet.  
     
  Wenn die Vernunft lauter ist.  
  Wenn man den Zusammenhang der Dinge dergestalt einsiehet daß man die Wahrheiten miteinander verknüpfen kan, ohne einige Sätze aus der Erfahrung anzunehmen; so ist die Vernunft lauter und rein, davon in der reinen Mathematick (mathesi pura,) die von abgesonderten Grössen handelt, Exempel vorkommen; hingegen wenn man Sätze aus der Erfahrung mit zu Hülffe nimmt, so wird Vernunft und Erfahrung mit einander vermischet, und wir sehen den Zusammenhang der Wahrheiten mit einander nicht vollig. Denn wenn wir zu dem Satze aus der Erfahrung kommen, bleiben wir stehen und unserer Vernunft kan nicht weiter fort. Wir finden es in denen Wissenschaften zur Gnüge, daß unsere Vernunft nicht immer lauter ist, sonderlich in Erkenntnis der Natur und unser selbst. Es kommen davon auch Exempel in denenjenigen mathematischen Wissenschafften vor, wo von sinnlichen Dingen gehandelt wird, als z.E. in der Mechanick, Optick, Astronomie u.s.w.  
     
  Der Gegenstand oder das Object der Vernunft.  
  Betrachten wir den Gegenstand oder das Object der Vernunft, so hat sie mit Sachen zu thun, die nicht unmittelbar in die Sinne fallen, als die unsichtbaren Kräfte und Eigenschafften der Dinge. Jedoch gründet sich die Vernunft in ihrer Erkenntniss auf die Empfindung der Sinnen, und die Idee oder der Begrif, welchen sie sich hieraus macht, ist nichts anders, als die Erklärung des Dinges, welches hernach in Beurtheilung der übrigen Wahrheiten zur Richtschnur dienet.  
  Hieraus entstehet nun folgender Grundsatz: Alles, was mit denen aus der würcklichen Empfindung erzeugten Begriffen der Vernunfft übereinkommt das ist wahr, und hingegen, was solchem klaren und deutlichen Begriffe der Vernunft zuwieder ist, das ist falsch. Z.E. Wenn mir jemand wolte weiß machen, daß die Hitze der Sonnen das Eis verursache, würde ich solches nimmermehr glauben, weil ich von der Hitze der Sonnen nur eine gantz andere Idee for-  
  {Sp. 1411|S. 719}  
  mirt habe. Doch ist ebenfalls nicht zu leugnen, daß sich viele Menschen falsche Concepte von den Sachen machen: und dieß sind eben die Vorurtheile oder die Quellen, woraus alle Irrthümer entspringen, doch hieran ist mehrentheils der verderbte Wille der Menschen Schuld, welcher macht, daß sich der Verstand entweder übereilet, oder von menschlichen Ansehen einnehmen, oder sonst von andern Umständen einen genungsamer Untersuchung der Wahrheit hindern lässet. Allein es kan auch dieses gantz wohl verhüthet werden, wenn man die behörige Vorsichtigkeit braucht.  
     
  Wenn die Vernunft verderbet?  
  Und hierinnen bestehet eben die verderbte Vernunft, wenn sie von Vorurtheilen benebelt, das wahre vor falsch und ein Schein-Gut für ein wahres Gut hält. Es ist nehmlich die Vernunft entweder gesund (Ratio sana oder recta) oder verderbt. Denn wenn das Gemüthe diejenigen Wahrheiten, so von Ewigkeit an wahr gewesen, und in alle Ewigkeit auch wahr bleiben werden, erkennet; so ist es die gesunde Vernunft; kommen aber Vorurtheile und Leidenschafften darzu, wird sie verderbt genennet.  
  Ob nun aber wohl das Verderben der Vernunft nicht von GOtt ist; so ist die Vernunft doch, die nun leider! verderbet ist, von GOtt. Wenn ein Pallast von einem berühmten Baumeister aufgeführet, darnach aber durch eine Feuers-Brunst beschädiget wird, daß nur ein paar Stock-Wercke übrig bleiben: so ist der Pallast nun zwar verdorben, man kan aber doch, wenn man gefraget wird, wer ihn aufgeführet? nicht anders antworten, als daß es von dem oder dem Baumeister geschehen. Es schreibet sich also der Ruin des Pallastes zwar von dem Baumeister nicht her; jedoch aber muß der Pallast selbst ihm nicht entrissen werden.  
  So ist nun das Verderben der Vernunft auch nicht von GOtt; aber die Vernunft, die nun verdorben ist, ein Geschencke GOttes. Wir haben Ursache, uns des Überbleibsels wenigstens zu bedienen, da wir ihre höhere Vollkommenheit nicht mehr haben. Stiebritzens Erläuterung der Wolffischen vernünftigen Gedancken von Gott, der Welt etc. II. Theil …
     
  Subject der Vernunft.  
  Daß in GOtt, den Engeln und den Menschen die Vernunft anzutreffen sey, bedarff keines grossen Beweises; wohl aber müssen wir fragen, ob auch die Thiere Vernunft haben? Da die Thiere gar wenige Veränderungen in ihrer Stimme haben, dadurch sie einiges, was ihren Zustand betrifft, anzeigen; hingegen man bey ihnen keine förmliche Thone verspühret, dadurch sie die Sachen anzudeuten pflegten, die sie sich vorstellen; so kan man daraus abnehmen, weil nehmlich die Seele und der Leib in einer beständigen Harmonie sind, daß sie ihre Empfindungen und Einbildungen nicht viel überdencken und keine grosse Aufmerksamkeit darauf haben, folgends es ihnen an der Deutlichkeit fehlet, die zur Vernunft erfordert wird. Deswegen kan man auch ihnen keine Vernunft zu schreiben.  
  Zu diesem nur beygebrachten Beweise, daß die Thiere keine Vernunft haben, ist zwar angenom-  
  {Sp. 1412}  
  men worden, daß zwischen Leib und Seele eine beständige Harmonie sey, und man daher aus demjenigen, was im Leibe vorgehet, schliessen kan, was sich in der Seele ereignet: allein dessen ungeachtet kan der Beweiß auch in einem jeden andern Systemate noch bestehen. Denn daß zwischen Leib und Seele in ihren Veränderungen eine Harmonie sey, ist eine Sache, die Niemand in Zweiffel ziehen kan, weil uns die Erfahrung lehret, daß die Empfindungen der Seele mit Veränderungen in den Gliedmassen der Sinnen und im Gehirne, hingegen aber gewisse Bewegungen der Gliedmassen des Leibes mit dem Willen der Seele zusammen stimmen.  
  Diese Ubereinstimmung oder Harmonie hält man in einem jeden Systemate für gewiß; nur ist die Frage, auf was für Art und Weise sie bestehen kan? In den gegenwärtigen Beweise fragen wir nicht nach der Art und Weise, wie sie bestehen kan? sondern nur, ob sie vorhanden seyn? Und demnach bleibet dieser Beweiß bey einem jeden Systemate stehen. Wolffs Metaph. … und Anmerck. …
  Siehe auch den Artickel: Thier, im XLIII Bande, p. 1333 u.ff. besonders p. 1347 u.ff. ingleichen den Artickel: Vernunfft-ähnliches.  
     
  Es ist die Frage aufgeworffen worden:  
  Ob die Vernunft so ein edles Geschencke des Himmels sey, daß wir dadurch vor allen andern Geschöpffen, die dieselbe entbehren müssen, die allerglückseeligsten zu preisen. seyn?  
  Nachdem Lucilius Balbus, ein Stoischer Weltweiser beym Cicerone weitläufftig erklärt, daß Götter wären, und daß die Welt von ihnen regieret werde, ingleichen, daß sie denen Menschen beystünden; so zog Cotta, ein Academicus, nach den Lehr-Sätzen seiner Schule solches alles in Zweiffel: und da Lucilius unter andern gesagt; die Vernunfft sey denen Menschen als eine göttliche Wohlthat ertheilet worden, welche die Bestien nicht bekommen hätten; so wendet Cotta alle Gemüths-Kräfte an, zu erweisen, daß hierdurch denen Menschen mehr Schade als Vortheil erwachsen sey.  
  Wir wollen hier nicht anführen oder wiederlegen, was er nicht ohne Schein vorträgt zu behaupten, daß die Vernunft vor keine göttliche Wohlthat zu halten sey, und daß die Götter hierdurch das Glücke der Menschen nicht beförderten. Die Sache ist einer genauen Untersuchung werth, und gehöret zu dem bekannten und schweren Streit von dem Ursprunge und der Zulassung des Bösen. Man kan diese Streitfrage mit Recht ein Creutz und einen Irr-Garten der Weltweisen nennen. Cicero de nat. Deor. …
  Ausser dem was Cotta anführet, zu erweisen, daß denen Menschen keine Kraft zu dencken hätte sollen mitgetheilet werden, hätte er noch dieses beybringen können: Der Grundsatz der Stoischen Weltweisen ist bekannt: daß man der Natur gemäß leben muß. Diese Regel wird von den unvernünftigen Thieren unstreitig besser, als v. den vernünftigen Menschen ins Werck gerichtet. Welches Tier thut etwas wieder den Trieb seiner Natur? frisset oder säufet mehr als die Natur erfordert? oder erwählet schädliche Nahrungs-Mittel? oder überschreitet die Maaß in Vermischung  
  {Sp. 1413|S. 720}  
  mit andern? Aber der Mensch, das vernünftige, ja das allervernünftigste Thier, das ich so reden mag, sündiget auf tausenderley Art; und wird solcher Gestalt weit unter die Thiere heruntergesetzt. Obschon die Thiere alles aus einer Nothwendigkeit der Natur und mechanisch thun; so ist es doch besser mechanisch der Erhaltung und dem Endzwecke des Schöpffers gemäß, das ist, weißlich handeln, als mit Vernunfft unsinnig seyn, wieder sein eigen Eingeweide wüten, und die weisesten Endzwecke des Schöpffers zernichten.  
  Will jemand dieses einen Mißbrauch der Vernunfft nennen; so sind wir nicht darwieder; wäre es aber nicht besser, man hätte etwas, das man also zu seinem Verderben mißbrauchen kan, gar nicht und wäre mit determinirten Kräften, welche keinen Mißbrauch zuliessen, versehen? Wer hält es nicht vor einer Glückseeligkeit, von mancherley Vorstellungen des Unglücks frey seyn, über kein vergangenes Elend klagen, über kein gegenwärtiges betrübt werden und vor keinen zukünfftigen erschrecken noch ängstlich hoffen? Ist es unter die Vortheile und Vorzüge zu rechnen, daß man um eines guten Wandels willen, Belohnungen erwarten kan; so ist es doch gewißlich keine Glückseeligkeit, daß ein Mensch wegen seines Verbrechens Strafe und Marter zu leiden fähig ist, und sie rechtmäßig erdulten soll. Wäre es nicht besser, wenn er gar keine Straffe leiden könte?  
  Diejenigen welche viel Vernunfft von der Natur besitzen, oder durch grosse Mühe erlangt haben: sind den allergrösten Beschwerlichkeiten unterworffen. Sie werden insgemein von einer unendlichen Begierde zu wissen getrieben und finden doch nicht, worinnen sie sich endlich beruhigen können. Je weiter sie in der Erkenntniß kommen, jemehr werden sie gewahr, was ihnen noch an gründlicher Wissenschafft fehle. Ist es aber nicht besser gar nichts wissen, als mit unendlichen Begierden zu wissen geängstiget werden?  
  Niemand meyne als wenn man hier der Vernunfft das Wort reden wolte. Dergleichen Beschwerlichkeiten, die wir erzehlt haben, treffen diejenigen, welche die Vernunfft nicht gerecht gebrauchen. Man siehet hieraus, daß die vortreflichste und nützlichste Sache, wenn sie nicht recht gebraucht wird, sehr schädlich seyn kan. Dergleichen wiederfährt denen Kindern, wenn sie mit scharffen Messern und Degen nicht umzugehen wissen. Es ist demnach allerdings besser gar keine Vernunfft haben als dieselbe haben; da auf beyden Theilen die Glückseeligkeit könte erlangt werden, und bey dem einen Theile doch der Mißbrauch stattfinden könte. Wenn einer mit einem Beile eben das, was er mit einem Scheer-Messer zuthun vermag, ausrichten kan; so handelt er übel, wenn er ein Scheer-Messer scharff macht und gebrauchet, da er durch dieses Werckzeug viel leichter als durch jenes kan verwundet werden.  
  Es sey aber ferne, daß wir die unzehlichen Vollkommenheiten, deren bloß derjenige, welcher Vernunfft hat, fähig ist, leugnen oder in Zweifel ziehen solten. Die Vernunfft ist also denen Menschen nach Göttlicher Vorsicht mitgetheilet worden, es ist auch viel besser, dieselbe zu haben, als derselben beraubt zu seyn, ob sie gleich kan gemißbrauchet werden. Warum hat aber GOtt nicht eine solche Vernunfft verliehen, die  
  {Sp. 1414}  
  nicht könte gemißbrauchet werden? Diese Streit-Frage gehöret, wie oben angezeiget worden, zu dem Ursprung des Bösen, und wir lassen dieselbe vor jetzo unberührt, weil sie in den Artickel: Ursprung des Bösen, wird abgehandelt werden.  
  Doch können wir nicht umhin, eine Stelle aus des Herr Leibnitzens Theodicäa §. 20. hiervon anzuführen: Die Quelle des Bösen, spricht er, muß in der Idealischen Natur der Creaturen gesuchet werden so ferne nehmlich diese Natur in den ewigen Wahrheiten, die in dem Verstande GOttes sind, und von seinem Willen keines weges dependiren, enthalten gewesen. Denn man muß bedencken, daß in der Creatur noch vor der Sünde eine ursprüngliche Unvollkommenheit ist, weil ihr Wesen gewisse Schrancken hat; daher es kommt, daß sie nicht alles wissen und also irren, und andere Fehler begehen kan.  
  Wie es aber an und vor sich denen, die eine Vernunfft bekommen haben, besser ist, seyn als gar nicht seyn, auch solcher gestalt besser ist, Vernunfft gebrauchen, als ein Vieh seyn; so müssen wir eben dieses gleichfalls in Ansehung derjenigen, welchen einige Krafft der Vernunfft verliehen worden, bekräfftigen. Ob gleich leider viele sind, welche ihre Vernunfft so brauchen, daß unzählige Verwirrungen und solche Beängstigungen der Seele entstehen, daß sie ihren Todt zu befördern suchen; so haben sie doch solches sich selbst zuzuschreiben, daß sie sich der Glückseeligkeit, des Vergnügens und der Gemüths-Ruhe, so der rechte Gebrauch der Vernunfft zuwege bringet, berauben, und nicht ohne Thorheit meynen, als wenn die Gemüths-Kranckheiten am besten mit den Degen oder Strick geheilet würden.  
  Die unendliche Begierde zu wissen, die dem Menschen angebohren, ist bey dem rechten Gebrauche der Vernunfft nicht vor ein Übel, oder doch nicht vor ein solches Übel anzusehen, daß es deswegen besser seyn solte, ohne allen Gebrauch der Vernunfft zu leben. Durch diese Begierde wird der Mensch angetrieben, die unzählichen Beweise der Göttlichen Weißheit, Macht und Vorsehung allenthalben zu suchen und ein inniges Vergnügen daraus zu schöpffen. Es gereicht nicht zu unserer Kränckung, sondern zu GOttes Ehre, wenn man erkennet, daß alles so weißlich und vorsichtig gemacht worden, daß man nicht alles zu erforschen und zu bewundern vermögend ist und noch immer zu lernen findet.  
  Wobey man den sichern Schluß machen kan, daß der allmächtige GOtt in der That mehr habe machen können, als wir mit aller unserer Denckungs-Krafft zu erreichen fähig sind. Kommen wir in unser Erkenntniß nicht gar wenig fort; so dürffen wir unserer Weißheit wegen nicht stoltz und aufgeblasen seyn. Denn je mehr einer erkennt, desto deutlicher nimmt er wahr, wie er fast nichts wisse. Wer in der Untersuchung natürlicher Dinge beschäfftiget ist, der kan seinen Hunger stillen, wenn er in dem unerschöpflichen Meere dererselben auch kaum den 1000 mahl tausenden Theil davon erkennet, und hat so wenig Ursache sich zu betrüben als einer, der an einen Fluß sich satt trincket, und denselben nicht austrincken kan.  
  Es kommt also auf den rechten Gebrauch in der Vernunfft an. Wo lernen wir anders solchen als in demjenigen Theile der menschlichen Gelehrsamkeit, welcher die Welt-  
  {Sp. 1415|S. 721}  
  Weißheit genennet wird? Diese macht, daß wir lernen der Vernunfft gemäß leben, daß uns die Vernunfft nicht zu einem Betrüger, Peiniger und Hencker, sondern zu einem Lichte und Lebens-Troste wird. Die Philosophie macht endlich, daß es besser ist, Vernunfft zu haben, als ein Thier zu seyn. Was ist die Philosophie anders als die Vernunfft, so wohl geübet, durch ihre Grund-Regeln in Ordnung gebracht und zum Nutzen des menschlichen Lebens geschickt gemacht worden? O vitae, philosophia, dux! o virtutis indagatrix expultrixque vitiorum!
  • Cicero Tusculan. Quaest. L. V.
  • Hollmanns Dissert. Brutamne esse an ratione uti praestet, Göttingen 1734.
  Es ist also ausgemacht, daß die Vernunfft die gröste Gabe und das edelste Geschenck des Himmels ist, wenn sie anders nicht gemißbrauchet wird.  
     

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Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries