HIS-Data
Home | Suche
Zedler: Verstand des Menschen [5] HIS-Data
5028-47-1980-2-05
Titel: Verstand des Menschen [5]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 47 Sp. 2015
Jahr: 1746
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 47 S. 1021
Vorheriger Artikel: Verstand des Menschen [4]
Folgender Artikel: Verstand der Rede
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen
  • : Absatz in der Vorlage vorhanden

vorhergehender Text  Teil 4 Artikelübersicht  

Übersicht
Dogmatische Betrachtung (Forts.)
  Was der menschliche Verstand sei? (Forts.)
 
  Erklärung des Verstandes (Forts.)
 
  3) Gebrauch des Verstandes  (Forts.)
 
  Gedankenfreiheit (Forts.)
 
  moralische
Historischer Teil
Literatur

Stichworte Text Quellenangaben
moralische Freiheit Die andere Art der Freyheit zu gedencken haben wir die moralische Freyheit zu gedencken (LIBERTATEM COGITANDI MORALEM) genennet, welche sich auf den Endzweck, warum uns GOtt den menschlichen Verstand gegeben, gründet, gleichwie die libertas physica cogitandi auf dessen natürliche Beschaffenheit ankam. GOtt thut nichts vergebens, welches mit seiner Weißheit stritte, mithin ists auch nicht von ohngefehr, oder ohne einigen Bewegungs-Grund geschehen, daß er unsere Seele mit der Krafft zu gedencken, ausgerüstet, sondern hat uns selbige zu unserer Glückseligkeit mitgetheilet, daß wir dadurch die Wahrheit erkennen, und durch die erkannte Wahrheiten die menschliche Glückseeligkeit befördern mögen. Aus diesem Endzweck fliesset die General Regel: Brauche deinen Verstand so, wie es das Absehen Gottes mit sich bringt, mithin laß deinen Gedancken nicht überhaupt den Lauff, sondern dirigire sie allezeit zu einem guten und nützlichen Objecte.  
  Cicero Lib. I de officiis schreibet: Curandum est, ut cogitatione ad res quam optimas utamur. Ingleichen omnis cogitatio motusque animi aut in consiliis capiendis de rebus honestis et pertinentibus ad bene beateque vivendum, aut in studiis scientiae cognitionisque versabitur, und kurtz vorher hatte er gesagt: Veri investigationis studio a rebus agendis abduci, contra officium est.  
  Es hat der Mensch nicht die Freyheit, daß er dencken könnte, was er wolte, und sind ihm durch den angezeigten Endzweck gewisse Grentzen gesetzet, daß er  
 
1) nichts vergebenes und unnützes dencken soll, welches vermittelst des Ingenii als Judicii geschehen kan. Denn mancher, der mit einem lebhafften Ingenio versehen, macht sich allerhand sinnreiche und mögliche Vorstellungen, die entweder an sich selbst nichts nütze sind; oder die der Denckende doch nur als ein Spielwerck brauchet, und damit die Zeit verderbet, in welcher er was bessers hätte dencken können. Der Endzweck, zu welchem GOtt dem Menschen das Ingenium verlieren, ist dieser, daß der Mensch diejenigen Connexionen der Dinge, die er vermittelst des Judicii weder durch die Sinne, noch durch nothwendige Folgerungen zu erkennen vermag, durch ingenieuses oder sinnreiches Herumrathen, oder Versuchung allerhand möglicher Connexionen zu seinem grossen Nutzen zu finden, möge fähig seyn, auf welchem Funda-
 
  {Sp. 2016}  
 
  ment denn die gantze Lehre von der Wahrscheinlichkeit, und wieder auf diese eine gute Anzahl der schönsten Disciplinen der Gelehrsamkeit beruhen, wie Herr D. Müller über den Gracian Cent. I. ..., wohl angemercket hat.
 
 
  Vermittelst des Judicii verfällt man auf vergebliche und unnütze Gedancken, wenn man sich mit unnützen Grillen und Subtilitäten aufhält, und dadurch in der That diese Freyheit mißbrauchet. Man hat zwey Gattungen solcher Subtilitäten. Einige sind wahr, und haben ihren Grund, die man aber an sich selbst nicht so schlechterdings verwerffen kan; denn in Ansehung, daß der Mensch nach der göttlichen Intention durch die Wahrheit seine Glückseeligkeit willkührlich befördern soll; so ist die Wahrheit an sich selbsten gut; Irrthum aber ist ein Übel.
 
 
  Es meynet zwar der Herr Thomasius in cautelis circa praecogn. jurisprud. ... daß die Wahrheit an sich selbst weder gut, noch böse, daß folglich weder der Irrthum, noch die Unwissenheit an sich selber weder gut, noch böse wären, und gleichwohl nicht zu leugnen, daß es viele schädliche und unnützliche Wahrheiten, und viele nützliche Unwissenheiten und Irrthümer gäbe. Allein es kan eine Wahrheit, Unwissenheit und ein Irrthum auf eine gedoppelte Art betrachtet werden; einmahl zufälliger Weise, in Ansehung eines gewissen besondern Gebrauchs, und in dieser Absicht hat Thomasii Meynung ihre Richtigkeit, daß bisweilen, aber nur accidentaliter einem eine Wahrheit schädlich, und hingegen ein Irrthum nützlich; hernach in Ansehung des natürlichen Zweckes, welchen GOtt intendiret, da er den Menschen zur Erkenntniß der Wahrheit fähig erschaffen, und da ist sie allezeit was gutes.
 
 
  Inzwischen, wenn man erweget, wie die Menge der höchstnöthigen und nützlichen Wahrheiten sehr groß, und das Lebens-Ziel der Menschen kurtz, so thut man allerdings unrecht, wenn man sich in solche Subtilitäten einlässet, womit man eben keinen sonderlichen Nutzen schaffet, und hingegen sich um nöthige und nützlichere Dinge nicht bekümmert. Einige Grillen und vergebene Meditationes lauffen auf eine pure Curiosität hinaus, die entweder noch ungegründet, oder doch nicht können ausgemachet werden. Von dieser Materie ließ sich vieles schreiben, daß man insonderheit das Verderben des Menschen in Ansehung der Gelehrsamkeit zeigte, wenn es hier die Umstände des Raums litten.
 
 
  Der Mensch kan sich Tag und Nacht die gröste Mühe um eine nichtswürdige Subtilität geben, und die wichtigsten Wahrheiten, woran wohl unsere Seeligkeit hänget, lässet man als gemeine Dinge, die man längst in der Jugend gelernet, liegen. Von dem, was zu unsern Zeiten geschehen, und noch geschiehet, will man nicht sagen. Man sehe nur die Scholastischen Lehrer sowohl in der Theologie als Philosophie an, so wird man Grillen und Subtilitäten, die nichts auf sich haben, und curieuse Fragen, welche nicht auszumachen sind, genug finden, wovon man insonderheit des Herrn Abt Fabricii Disput. de moderatione theolog. ... lesen kan.
 
 
  In der Philosophie trieben sie ihre Abstractiones so hoch, daß ausser den Wörtern kein reeller Concept übrig bliebe. So ist insonderheit in ihrer Metaphysick viel unnützes Zeug von Distinctionen und
 
  {Sp. 2017|S. 1022}  
 
  Philosophischen Regeln, und hat in gewisser Absicht Herr Thomasius nicht unrecht, wenn er schreibet: Honori reputandum est; ignorare stultas scholasticorum subtilitates, introd. ad phil. aulic. ... wie sie denn auch in ihren Logicken viele unnütze Speculationes hatten.
 
 
  So nutzt auch die Lullistische Philosophie nichts, und wenn man die artem combinatoriam, davon der Herr Leibnitz einen besondern Tractat geschrieben, genau einsiehet, so findet sich auch wenig nutzbares, wie er denn selbst in den Actis Erudit. 1691 ..., aus dieser Schrifft nichts machet. Und wie viel unnütze Wissenschafften hat man nicht noch heut zu Tage, dahin man das Nativität Stellen, die Geomantie, die Chiromantie und Physiognomie, die Traumdeuterey und dergleichen rechnet, womit man sich in der That gar sehr versündiget, und seine Freyheit zu gedencken, mißbrauchet.
 
 
  Es hat Henricus Cornelius Agrippa ein Buch de incertitudine et vanitate scientiarum geschrieben, welches Sorberius, wie aus den Sorberianis zu ersehen, sehr hochgehalten. Er hat darinnen auf eine satyrische Art die Eitelkeiten der Wissenschafften durchgezogen, bringt viel gutes bey, ist aber in vielen zuweit gegangen:
 
 
2) ist die moralische Freyheit zu gedencken in so weit eingeschräncket, daß man nichts sündliches dencken soll. Man sagt im Sprüchwort: Die Gedancken sind Zollfrey. Verstehet man dieses von dem foro humano, so ist es wahr, indem sich die Herrschafft eines Menschen nicht über des andern Gedancken erstrecket; wo mans aber auch von dem foro divino verstehen wolte, als werde GOtt von den sündlichen Gedancken der Menschen keine Rechenschafft fordern, so ists falsch, welches mit mehrern die Theologen in ihrer Moral ausführen. Wenigstens haben die ehrbaren Heyden zum Theil gelehret, ein Mensch müsse seine Gedancken allezeit so einrichten, daß er gleich im Stande sey, wenn man ihm frage, was er gedencke, solches ohne Scheu heraus zu sagen.
 
Historischer Teil Wir kommenden nunmehr zu dem Historischen Theil der Lehre von dem Verstande, in welchem wir die Lehre einiger Philosophen von dem Verstande des Menschen anführen wollen.  
  Was die heydnischen Philosophen von deren Natur und Beschaffenheit sowohl, als von dem Verhältniß gegen die Erkänntniß des menschlichen Verstandes gelehret, muß sonderlich aus ihrer Lehre von der menschlichen Seele gezeiget werden.  
  Plato hielte die Seele des Menschen vor ein Stücke des Göttlichen Wesens, worinnen er von andern in einigen Stücken abgegangen, und sich so erkläret, daß die menschliche Seele aus der Seele der Welt, die er von dem obersten GOtt unterschieden, kommen. Doch hielte er sie vor Gottlich, in dem die Seele der Welt seiner Meynung nach ein Göttlich Wesen habe. Nach solchem Ursprunge nach wären der menschlichen Seelen, oder vielmehr ihrem Verstande die Ideen der Dinge eingedruckt und anerschaffen worden; wie sie aber in die Vereinigung des Leibes, worinnen sich das Böse aufhielte, kommen, sey sie in eine Vergessenheit aller Dinge, die sie vorher erkannt hätte, gerathen. In solchem Zustande müsse der Mensch Fleiß anwenden, daß  
  {Sp. 2018}  
  er sich aus solcher Vergessenheit reisse, und bey Gelegenheit der sinnlichen Dinge die vorher gehabte Ideen wieder aufwärme.  
  Er statuirte also angebohrne Ideen, und hielte die verständliche Erkänntniß vor gewisser, als die sinnliche, weil die Sinnen betrüglich wären, welches auch Gelegenheit zu dem Scepticismo bey einigen seiner Nachfolger gab. Beydes die angebohrnen Ideen sowohl, als die Ungewißheit der äusserlichen Sinnen, so er behaupten wolte, war falsch. In der That machte er damit den menschlichen Verstand zur Erkänntniß der Wahrheit untüchtig. Denn diese muß sich auf die Gewißheit der Sinnen gründen. Man sehe, was in Walchs Historia logicae ... der Parergor. Academicor. angeführet worden.
  Aristoteles traf die Sache besser, wenn er die angebohrnen Ideen verwarf, und dafür hielte, daß alles durch die Sinnen in den Verstand käme; was er aber von dem INTELLECTU AGENTE lehrte, war nichts nütze. Er machte einen Unterscheid unter der Seele und dem Gemüthe. Jene hielte er nur vor ein Principium der Bewegung, und legte ihr die Sterblichkeit bey; da hingegen mens, oder der intellectus agens, als ein allgemeines Principium den Menschen die vernünfftige Gedancken von aussen mittheilte und unsterblich wäre. Seine Worte de generat. animal. ... sind bekannt: [ca. eine Zeile griechischer Text], restat igitur, ut mens sola forinsecus accedat, eaque sola divina sit, welche seinen Auslegern viele Mühe verursachet, die, um diesen Weltweisen aus dem Verdachte einer irrigen und ungereimten Lehre zu setzen, selbigen einen vernünfftigen Verstand zu geben, sich bemühet haben. Walch hat davon in der exercit. de Atheismo Aristot. ... ausführlich gehandelt, auch untersuchet, wie weit andere dieser Meynung von dem intellectu agente beygethan gewesen.  
  Die Stoicker giengen auch dahin, daß sie die Seele vor ein Theil des Göttlichen Wesens ansahen, und da sie GOtt und die Natur vor eins hielten, so war ihre Lehre gewisser massen noch schlimmer, als die Platonische. Nach diesem Grundsatze musten sie auch den Verstand vor Göttlich halten. Sie legten sich sehr auf die Dialectic, die aber auf die Erkänntniß der Wahrheit und Verbesserung des Verstandes nicht eingerichtet war. Sie machten daraus eine Lehre der Wäscherey und Betrügerey.  
  In den mittlern Zeiten philosophirten die Scholasticker, welche dem Menschen eine dreyfache Seele, eine wachsthümliche, sinnliche und vernünfftige beylegten. Die sinnliche sey mit sinnlichen und leiblichen Dingen beschäfftiget, die ihrer Meynung nach nicht blos empfinde; sondern auch gewisse Würckungen, dabey sie sich thätig verhalte, hervorbringe. Denn sie theilten die Sinnen in äusserliche, wohin das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen gehörte; und in die innerliche, welche der sensus communis, die Phantasia und die Memoria wären.  
  Durch den sensum communem verstehen sie das Vermögen, die Vorstellungen der äusserlichen Sinnen anzunehmen, von einander zu sondern und zu erkennen; die Phantasie aber sey diejenige Art der innerlichen Sinnen, welche die Ideen, die sie entweder von  
  {Sp. 2019|S. 1023}  
  dem sensu communi bekomme; oder sich selber mache, länger behalte und fleißiger betrachte; und was das sinnliche Gedächtniß beträffe, so müsse dasselbige die Ideen der sinnlichen Dinge, die man beurtheilet und erkannt, gleichsam verwahren, und wenn es nöthiger ist, wieder heraus geben. Wie sie nun von dieser sinnlichen Seelen die vernünftige unterscheiden; also halten sie den Verstand der vernünftigen Seelen vor das Vermögen, die Ideen der verständlichen Sachen zu verstehen, zu erkennen und zu beurtheilen.  
  Diese Lehre siehet sehr verwirret aus, an der wir folgende Mängel wahrnehmen. Erstlich hat der Unterscheid unter der sinnlichen und vernünftigen Seele keinen Grund, indem diejenige, die man die vernünftige nennet, alles dasjenige thut, was man der sinnlichen zuschreibet. Der Unterscheid der Dinge, die man zu erkennen hat, daß einige unmittelbar in die äusserliche Sinne fallen; andere hingegen nur mit dem Verstande können begriffen werden, macht die Sache nicht aus.  
  Vors andere vermischen sie die Leidenschafften und die Thätlichkeiten des Verstandes, indem die Phantasie und das Gedächtniß ausser Streit zu ihren Würckungen sich thätig verhalten; durch den sensum communem aber verstehen sie ein solches Wesen, welches aus der Empfindung und Judicio zusammen gesetzt sey.  
  Drittens setzen sie bey einerley Würckungen unterschiedene Kräffte. Denn das Erkennen, Beurtheilen, Erinnern, legen sie sowohl der sinnlichen als der vernünfftigen Seele bey, und was andere Fehler mehr sind, die von den neuern Philosophen bemercket worden.  
  Diese haben auch die Lehre von dem Verstande zu verbessern gesucht; haben sich aber in vielen Stücken nicht vergleichen können, auch zum Theil Dinge gelehret, die entweder irrig und verworren sind; oder doch keinen Nutzen haben.  
  Die Cartesianer versahen es darinnen, daß man alle Leidenschafften der Seele dem Verstande; und alle Thätlichkeiten dem Willen zuschriebe. Denn Cartesius hatte das Wesen der Seelen in dem Dencken gesetzet, und alles, was in derselbigen vorgienge, vor Gedancken angesehen, indem er meditat. 2 schreibet: Sed quid igitur sum? res cogitans; quid est hoc? Nempe dubitans, intelligens, affirmans, volens, nolens, imaginans, quoque et sentiens.  
  Diese Gedancken theilte man in zwey Arten. Einige wären Thätlichkeiten der Seelen, welche zum Willen gehörten; andere Leidenschafften, die den Verstand angiengen. Aus diesen muste man weiter folgern, daß das Judicium nicht zum Verstande; sondern zum Willen; und die Affecten nicht zum Willen; sondern zum Verstande gehörten. Cartesius sagt princip. ... selbst: Capere, aversari, affirmare, negare, dubitare sunt diversi modi volendi; und daß die Cartesianer das Judicium ausdrücklich zum Willen rechnen, siehet man aus den Schrifften des Claubergs, Ludewigs de la Forge, Antons le Grand und anderer.  
  Diese Lehre ist nicht nur verworren; sondern auch offenbar falsch. Die Verwirrung treffen wir darinnen an, daß man nicht nur die Leidenschafften und die Thätlichkeiten (passiones und actiones) der Seelen überhaupt; sondern auch des Verstandes insonderheit unter einander mischet, und  
  {Sp. 2020}  
  dasjenige, was eigentlich zum Willen und zum Verstande gehöret, nicht von einander unterscheidet. Denn entweder siehet er die Gedancke, darauf das Wesen der Seele ankommen soll, als eine Thätlichkeit; oder als eine Leidenschafft; oder vor beydes zugleich an. Soll sie eine Thätlichkeit seyn, so kan die Empfindung nicht darunter stehen, welche eine Leidenschafft ist; hält man sie vor eine Leidenschafft, so muß alles dasjenige, was die Cartesianer als Thätlichkeiten dem Willen zu schreiben, wegfallen; wolte man aber sagen, es sey beydes zugleich, so gäbe man ja ein zweydeutiges Wesen an.  
  Den Ungrund kan man so wohl durch eigne Empfindung; als auch aus den ungereimten Folgerungen, die daher fliessen, erkennen. Denn wir empfinden deutlich den Unterscheid unter den Würckungen des Verstandes, und des Willens, und wie sich die Seele zu beyden bald leidend; bald thätig verhalte; das Judicium aber keinesweges zum Willen, sondern zum Verstand gehöre. Wenn wir urtheilen, so gedencken wir; nur kan der Wille nicht gedencken; sondern hat nur Begierden. Dorten verhält sich die Sache als was wahres und falsches; hier aber als was gutes und böses. Die Cartesianer widersprechen sich selbsten. Denn in ihren Logicken haben sie eben wie die andern, die Absicht, daß sie die Verbesserung des Verstandes weisen wollen, und handeln doch darinnen von dem Judicio, welches sie in der Lehre von dem Willen, oder in der Ethick betrachten solten.  
  Man kan dieses unter andern aus den Logischen Schrifften des Antons le Grand und Clauberg sehen. Denn jener macht vier Theile der Logick, und handelt in dem ersten von den Ideen; im andern von dem Judicio; im dritten vom Discours und in dem vierten von der Methode; dieser aber sagt, die Logick diene zu dreyerley, daß sie den Verstand befreye von der Dunckelheit und der Verwirrung; das Judicium von dem Zweiffel und Irrthum, und das Gedächtniß von der Vergessenheit. Insonderheit rechnen sie zum Verstande den intellectum purum, sensum, phantasiam und reminiscentiam.  
  Bey den übrigen Philosophen wird die Lehre von dem menschlichen Verstande bald auf diese; bald auf jene Art vorgestellet. Denn man ist nicht einig, wie viel man Würckungen desselbigen setzen soll? Wie man denn schon vor langer Zeit die Frage vorgebracht: Ob man zwey, drey oder vier Würckungen behaupten soll; wobey Thomasius in der Einleitung der Vernunfft-Lehre ... angemercket, daß alle Meynungen von dieser Frage undeutlich und vielen Zweiffeln unterworffen wären; auch keinen andern Nutzen bei sich hätten, als daß man die gemeine Methode der Vernunfft-Lehre rechtfertigen wolte.  
  Insgemein pflegt man drey Würckungen dem Verstande beyzulegen, indem sich der selbige entweder eine blosse Vorstellung von einer Sache mache; oder er fasse ein Urtheil ab; oder mache einen Vernunfft-Schluß. Andere setzen noch die vierte, oder die Methode hinzu. Noch mehrere erzehlet Syrbius in philosoph. prim. ...  
  Eben daher kommt es, daß man die Kräffte des Verstandes auf so unterschiedliche Art angiebet, welche nicht weniger auf ungleiche Art erkläret werden, wie wir  
  {Sp. 2021|S. 1024}  
  von einer jeglichen an dem gehörigen Orte gewiesen haben. Es hat sich insonderheit eine dreyfache Eintheilung des Verstandes bekannt gemacht.  
  Die erste ist, dass er sey entweder INTELLECTUS PASSIVUS (ein leidender) oder ACTIVUS (ein thätiger) wozu Aristoteles Anlaß gegeben hat. Man kan selbige wohl behalten wenn man sich nur recht erkläret. Denn verstehet man durch den leidenden Verstand denjenigen Stand des selbigen, so fern er empfindet und sich dabey leidend verhält; durch den thätigen hingegen seine Beschaffenheit, so fern er gedencket, so geht solches wohl an; man theilet aber nicht sowohl den Verstand selbst, als dessen Stand, darinnen er stehet, indem er entweder empfinden; oder gedencken kan, ein, wie wir in der Erklärung schon angezeiget haben.  
  Die andere Eintheilung des Verstandes ist, daß er sey entweder INTELLECTUS PURUS (ein reiner) oder IMPURUS (ein unreiner) welche von den Cartesianern herkommt. Man hat die Kräffte der Seelen, des Verstandes und Willens überhaupt in reine und unreine eingetheilet. Der Grund davon soll seyn, daß die Seele entweder ausser der Gemeinschafft des Leibes würcke, wenn sie mit abstracten Dingen, die nicht in die äusserliche Sinne fielen, beschäftiget, und da wären ihre Kräffte als rein anzusehen; oder sie würcke in der Gemeinschafft mit dem Leibe, und brauche dessen sinnliche Werckzeuge, wenn die Objecte, damit sie sich beschäfftige, leibliche und cörperliche Sachen wären, die man äusserlich empfinden müste. Auf solche Weise ist der intellectus purus, wenn er solche Objecte vor sich hat, die nur können verstanden, und nicht sinnlich begriffen werden, wie die geistliche Dinge und alle abstractiones; impurus hingegen, wenn er leibliche Sachen empfindet und Gedancken darüber hat.  
  An dieser Eintheilung haben einige eines und das andere ausgesetzet. Sie sagen, sie habe keinen sonderlichen Nutzen, indem sie von dem Unterscheide der Objecten, welche dem Verstande können vorgestellet werden, hergenommen. Selbige mache in dem Verstande selbst keine Veränderung. Ja sie scheine keinen Grund zu haben. Denn die Seele könne niemahls ohne aller Gemeinschafft mit dem Leibe würcken, weil alle Ideen von der äusserlichen Empfindung herrühreten, obwohl nicht unmittelbar; doch mittelbar, daß wenn wir auch Gedancken von geistlichen Sachen haben, so wären selbige doch von einer äusserlichen Empfindung veranlasset worden; auf welche Art sich die Sache auch mit den abstracten Ideen verhalte. Der Irrthum von den angebohrnen Ideen habe zu der Cartesianischen Meynung von dem reinen Verstande Gelegenheit gegeben.  
  Die Controversien und verschiedene Meynungen wegen des reinen Verstandes erzehlet und beurtheilet Johann David Köhler in einer Dissertation, welche den Titel hat Controversiae philosophorum de intellectu puro, Altdorff 1713, siehe auch den Artickel: Verstand (reiner).  
  Die dritte Eintheilung des Verstandes ist, es sey der intellectus entweder ein THEORETICUS (ein theoretischer) wenn er mit solchen Sachen zu thun habe, die nur zur Betrachtung gehörten; oder PRACTICUS (ein practischer) wenn ihm ein Object, dar-  
  {Sp. 2022}  
  nach man eine Ausübung und würckliches Verfahren anzustellen, vorkame, welcher Unterscheid bey den Aristotelickern bekant ist. Er hat mit dem vorhergegangenen gleichen Fehler, daß er von dem Objecte hergenommen, welches keinen tüchtigen Grund einer brauchbaren Eintheilung geben kan, es sey denn, daß man die Wissenschafften, deren Wesen in dem Objecte beruhet, abtheilen wolte.  
  Die übrigen Stücke dieser historischen Nachricht, welche wir hier anführen solten, sind schon in andern Artickeln da gewesen, als von der Christlichen Religion, von der Seele, u.s.w. Walchs Philosophisches Lexicon.
  Jedoch wollen wir, was das erstere, nehmlich die Religion, betrifft, noch etwas beybringen: Nachdem, wir aus Philosophischen Gründen und Untersuchungen hinlänglich zu erweisen, und auch aus der täglichen Erfahrung mehr als zu viel bekannt ist, der menschliche Verstand, wie überhaupt in allen, seiner Erkänntniß und Einsicht unterworffenen Dingen, also auch besonders in Religions-Sachen und deren Untersuchung sich durchaus an keine Gesetze binden, noch zwingen läßt; so erfordern die Pflichten eines Fürsten, als Fürsten, nicht, seine Unterthanen, wenn dieselben gleich einer falschen Religion zugethan sind, zu Annehmung und Erkennung der wahren seeligmachenden Religion durch äusserliche Zwangs-Mittel zu nöthigen.  
  Denn die Religion bestehet im Verstande; dieser aber läßt sich, wie nur gedacht, keine Gesetze vorschreiben, noch zwingen; sondern da müssen blosse Vernunfft-Schlüsse und überzeugende Beweis-Gründe vorgekehret werden. Und warum solte man auch einen mit Gewalt zur Religion zwingen; da uns ja dieselbe zur Seeligkeit bringen soll? Lässet man doch einem jedweden die Freyheit, daß er sich eine Handthierung erwählen kan, welche er will, da doch dieses nur zur zeitlichen Glückseligkeit gehöret.  
  Es muß also ein jedweder die Freyheit haben, diejenigen Mittel zu suchen, wodurch er die Glückseligkeit des andern Lebens erlangen möge. Und eben deswegen will ja auch GOtt selbst keinen mit Gewalt zur Religion gezwungen wissen; sondern er hat einem jedweden die gesunde Vernunft und die Schrifft gegeben, daß er in derselben die Mittel und Wege lernen soll, sich der ewigen Glückseligkeit theilhafftig zu machen. Wie denn auch überhaupt dermahleinst ein jeglicher von seinem eigenen Leben und Glauben Rede und Antwort geben muß.  
  Man siehet derowegen wie ungereimt diejenigen urtheilen, welche der Obrigkeit eine Gewalt über die Gewissen, mithin auch über den Verstand der Menschen zueignen, wie solches vornehmlich der sonst berühmte Hadrian Houtouyn in Polit. general. ... zu behaupten sich nicht scheuet: Massen wenn man dieses einer Obrigkeit einräumet, nicht zu ersehen, wie man die Heydnischen Kayser, wegen der von ihnen unternommenen Verfolgung der Christen, einer Ungerechtigkeit beschuldigen könne; daß man also billig, dergleichen zu vertheidigen, einen Abscheu zu tragen hat. Siehe hiervon ein mehrers unter dem Artickell: Religion, im XXXI Bande, p. 443 u.ff.  
  Ob aber und inwiefern bey so gestalten Sachen gleichwohl die an einigen Orten eingeführten und so ge-  
  {Sp. 2023|S. 1025}  
  nannten Religions Eyde zu vertheidigen stehen? Davon ist bereits in dem Artickel: Religions-Eyd, im erstbemeldeten XXXI Bande, p. 513 u.f. gehandelt worden.  
  Schlüßlichen erinnern wir noch, daß der Verstand scheine zu den menschlichen Kranckheiten etwas beyzutragen, indem derselbe zu vielen Ausschweiffungen, die zwar der sinnlichen Empfindung angenehm, dem Cörper aber schädlich sind, Gelegenheit giebet; und solches hat der Mensch vor den Thieren zum Voraus. Denn, um nur ein eintziges Exempel hiervon zu geben, so kan kein Thier seinen Zorn unterdrücken, welchen doch der Mensch, durch Betrachtung anderer Umstände, öffters zu seinem größten Schaden bey sich behält.  
  Ferner, ist auch in der Erfahrung gegründet, daß, je mehr die Thiere einen Umgang mit den Menschen haben, und von denenselben gleichsam gezogen werden, je häufiger sind sie kranck: Weil der menschliche Verstand von denenselben öffters etwas erzwingen will, was ihrer Natur zuwider ist; oder weil sie bisweilen zu Gemächlichkeiten angehalten werden, die ihnen nicht eigen sind. Man siehet solches unter andern an den Schooßhündchen, so die leckern Speisen essen, und auf weichen Küssen schlaffen: Wie zärtlich ist bisweilen das artige Thiergen? Wie leicht kan es unpaß werden? und wie sorgfältig wird es daher verwahret? daß es sich ja nicht mit harten Speisen das Mäglein überlade, oder erkälte, und also den Husten oder Schnupffen davon trage.  
  Hingegen ist auch wiederum was besonderes, daß, je dümmer ein Mensch ist, und je näher er also der viehischen Natur komme, je gesünder ist derselbe, und je weniger wird er auch von denen Ursachen, welche andern grossen Schaden zufügen, verletzet. Wir finden solches nicht nur an den wilden und ungezwungenen Völckern; sondern auch an vielen von unsern eigenen Landesleuten; von denen man im gemeinen Sprüchworte saget: Es sey solcher Mensch wie ein Vieh, er empfinde nichts, kehre sich an nichts, schade ihm auch nichts, er habe eine rechte Pferde-Natur.  
Literatur   Es ist nicht nöthig, die gemeinen Bücher zu erzehlen, darinnen von dem menschlichen Verstande gehandelt wird. Denn es gehören alle diejenigen dahin, so entweder Logicen; oder Pnevmaticen; oder von der Seele geschrieben: Insonderheit verdienet Locke de intellectu humano gelesen zu werden; ingleichen Johann Eggers de viribus mentis humanae … Bern 1735 in 8, siehe auch die Unschuldigen Nachrichten des Jahrs 1736 … Im
   
  • Joh. Christian Kundmanns Abhandlung vom Verstande des Menschen vor und nach dem Falle, Bautzen 1716 in 8.
  • Gerhard de intellectus humani usu atque emendatione, Jena 1709.
  • Mich. Friedr. Leisticons Diss. de emendatione intellectus, Jena 1717.
  • Christian August Crusii Diss. de corruptelis intellectus … Leipzig 1740.
  • Sam. Christian Teubers Responsum ad quaestionem

    {Sp. 2024}

    … Halberstadt 1711 in 8.
  • Hagens Progr. de mensurandis viribus intellectus, Halle 1734.
  • Reuschens Diss. de sana illorum doctrina … Jena 1721.
    Im Jahr 1717 hat Friedrich Muzel einen tractat. metaphysico-physicum de rationis natura … heraus gegeben.
    Von der Frantzösischen Schrifft traité de l’esprit de l’homme … findet man in den memoires de Trevoux 1715 … einen Auszug, worinnen er unter andern wider die Cartesianer disputiret hat.
    Des Julius Castellanii disputationes in libros Aristotelis de intellectu humano, sind zu Venedig 1568 herausgekommen.
     

vorhergehender Text  Teil 4 Artikelübersicht  

HIS-Data 5028-47-1980-2-05: Zedler: Verstand des Menschen [5] HIS-Data Home
Stand: 5. April 2013 © Hans-Walter Pries