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Zedler: Wahl [1] HIS-Data
5028-52-696-1-01
Titel: Wahl [1]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 52 Sp. 696
Jahr: 1747
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 52 S. 361
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  Text   Quellenangaben
  Wahl. Lat. Electio, Nominatio, Optatio, Frantz. Choix, ist, eigentlich und überhaupt betrachtet, eine Würckung des freyen Willens, da ein vernünfftiges Wesen aus zweyen, oder mehrern Dingen, etwas annimmt, und das übrige verwirfft. Wir betrachten diese Wahl:  
  I. In Philosophischem Verstande.  
  Wenn wir die Wahl nach der Weltweißheit ansehen, so sehen wir, daß dieselbe bey den zufälligen Dingen statt habe; Nicht allein, weil vielerley ist, und man sich nicht genöthiget befindet, eines zu nehmen, sondern auch, weil eines den Vorzug für dem andern hat, und also mit besserm Grunde genommen werden kan. Man siehet hieraus, daß derjenige weniger zu der Freyheit erfordert, wer bloß bey der Wahl darauf siehet, daß man eines für dem andern nehmen kan, als hingegen ein anderer, der zugleich auf die verschiedenen Grade der Vollkommenheit derer Dinge, darunter eine Wahl geschehen soll, Acht hat.  
  Jedoch, damit man sich von diesen Worten Wahl und Freyheit einen desto deutlichern Begriff mache, wollen wir folgender Anmerckungen voraussetzen:  
  Erstlich, eine Wahl supponiret jedesmahl wenigstens zwey Objecte, davon ich eines nehme, und das andere fahren lasse. Diß bringet die Beschaffenheit des Wortes mit sich. Nun gestehen wir zwar zu, daß wir sehr offt und wohl meistens mehrere Objecte vor uns haben, wenn wir unsere Freyheit ausüben: Aber es giebt sehr viel Fälle, da nicht zwey, sondern nur eins ist, und wir nichts destoweniger unsere Freyheit erweisen, wenn wir das eine wollen. Z.E. Ein sehr hungriger Passagierer kommet in eine Herberge, da er nichts, als das pure Brodt, zu essen haben kan. Nun hat er schon, da er die Herberge erblicket, das ernstliche Wollen, etwas zu essen, gehabt. Insofern hat eine Wahl statt gefunden, oder unter essen und nicht essen, oder unter essen wollen und nicht essen wollen. Allein, da er sonst keine Gerichte findet, als das liebe Brodt, so begehrt er auch, man möge ihm nur das geben, und nimmt es auch mit dem grössesten Appetit zu sich. Hier ist nun in so ferne, als er diß Brodt nimmt, da er sonst nichts haben kan, keine Wahl, und doch Freyheit. Und so in vielen Fällen mehr.  
  Zweytens, bey einer Wahl nimmt man aus zweyen eins, und läst das andere fahren, sonst ist es keine Wahl. Nun aber giebt es ja ferner, sehr viel Fälle, da man so nicht wehlet, wenn man auch gleich zwey (oder mehrere) Dinge vor sich findet, sondern, da man sie alle beyde will, oder alle beyde nicht will. Z.E. Ein Dieb hat sich vorgenommen, in eine Stube zu gehen, die er offen findet, und zu stehlen. Die Frage: Ob? ist also bey ihm ausgemacht. Es liegen aber just zwey Taschen-Uhren auf dem Tische, und sonst weiter nichts.  
  {Sp. 697|S. 362}  
  Da macht er keine Wahl, welche von beyden er nehmen, und welche er liegen lassen will, sondern er nimmt sie alle beyde mit Freuden zu sich. Hier sind zwar zwey Dinge, aber doch keine Wahl, und gleichwohl Freyheit. Ingleichen, ein Vater schläget seinem Sohne, der heyrathen will, zwey Personen vor, und dringet darauf, daß der eine von beyden nehmen solle. Der Sohn findet aber an beyden kein Belieben, und will also mit Gewalt keine davon nehmen, sondern strebet sich wieder beyde. Da ist wieder keine Wahl unter beyden, und doch Freyheit. Und dergleichen Exempel sind mehr.  
  Drittens, eine eigentliche Wahl erfordert ein wissentliches Ergreiffen des einen, und ein wissentliches Verwerffen des andern. Wenn das nicht ist, so ist es keine eigentliche Wahl, ob man gleich zwey Dinge vor sich hat, auch eins davon nimmt, und das andere fahren lässet. Es ist keine formale Wahl, (Electio formalis) ob es gleich materiel (materialiter) so heissen möchte.  
  Die Sache ist richtig, und dem gemeinen Gebrauche zu reden gemäß. Man wird das noch keine Wahl nennen, wenn zwar zwey Dinge da sind, man aber doch nur eins davon gewahr wird, oder weiß, und es also nimmt, das andere aber nicht weiß, oder nicht daran gedenckt. Z.E. Wenn 2 Ducaten auf dem Tische liegen, ich sähe aber nur den einen und nehme ihn, den andern aber sähe ich nicht, und ließ ihn also liegen. Sondern das nennet man erst eine Wahl, wenn man erstlich sich beyde Objecte eigentlich vorstellet, zweytens sie beyde gegen einander hält, und denn drittens eines dem andern wissentlich vorziehet, d.i. eines nimmt, das andere aber fahren lässet. Z.E. Wenn ich beyde Ducaten auf dem Tische liegen sähe, sie betrachtete, und den nähme, der mir gefiele, den andern aber liegen ließ. Sonst müste man sagen, daß eine Maschine auch wehlete, wenn sie sich gegen die Rechte kehret, und nicht gegen die Lincke; oder daß eine Henne auch wehlete, wenn sie unter einem Hauffen Erbsen eine nach der andern frißt, die andern aber indeß liegen lässet; oder daß der Dieb auch wehlete, wenn er die silberne Uhr von dem Tische nimmt, und den Tisch selbst stehen lässet; oder daß man eine Wahl anstellete, wenn man nach Leipzig reiset, und nicht nach Constantinopel, da man an das letztere nicht gedacht hat.  
  Ob es nun gleich wahr ist, daß man bey einer jeden freyen Handlung das Thun, oder Nicht-thun, ergreifft; es auch wahr ist, daß man niemahls ein Ding nimmt; da nicht andere Dinge in der Welt übergangen würden; und es auch wahr ist, daß offt zwey Objecte vorhanden sind, darunter sich eine Wahl anstellen ließ; so ist doch gedachtermaßen aus der täglichen Erfahrung erweißlich, daß man nicht allemahl das Thun, oder das eine Object, so ergrieffe, daß man sich auch das Nicht-thun und das andere Object dabey mit vorstelle, und die ausdrücklichen Reflexionen mache, ob man diß, oder jenes, nehmen wolle? Sondern man ergreifft das Thun, ohne an das Nicht-thun zu gedencken, oder das eine Object, ohne das andere zu gedencken. Z.E. Wir stehen wohl des Morgens auf, weil  
  {Sp. 698}  
  wir unsere Arbeit vor uns haben, ohne daran zu gedencken, ob wir lieber noch länger, oder den Tag über, in dem Bette liegen bleiben wollen. Wir treten unsre ordentliche und gesetzte Arbeit mehrmahls an, ohne die geringste Reflexion darüber zu machen, ob wir sie liegen lassen wollen. Wir setzen uns offt an den Tisch, und essen, was uns vorgesetzet wird, ohne die geringste Reflexion darüber zu machen, ob wir lieber von dem Tische wegbleiben, oder etwas anders essen wollen. Ein verstockter und ruchloser Sünder, dessen Gewissen schon fühlloß ist, begehet offt die gröbsten Schandtaten, ohne zu reflectiren, ob er sie unterlassen wolle; und so in tausend Fällen mehr. Und gleichwohl thun wir alle diese Dinge frey, und ist dabey Freyheit, ob gleich keine formale Wahl.  
  Da nun solchergestalt nicht in allen freyen Handlungen eine formale Wahl anzutreffen ist, indem man offt nur ein Object vor sich hat, oder doch nicht allemahl eins davon nimmt, und das andere liegen lässet, sondern entweder beyde nimmt, oder beyde liegen lässet, oder doch mehrmahlen das eine nicht wissentlich nimmt, noch das andere wissentlich fahren lässet; so kan die Wahl, oder das Wehlen, auch nicht wohl mit dem allgemeinen Begriffe der Freyheit gezogen werden.  
  Hingegen aber, da allemahl das Wollen bey einer jeden freyen Handlung ist, und eine Handlung zu einer freyen Handlung macht, man habe übrigens nur ein Object, oder mehrere, vor sich, man nehme eins, oder alle beyde, man dencke an das andere, oder dencke nicht daran; wie ein jeder leicht begreiffet: So nehmen wir das Wollen auch lieber zu dem allgemeinen Begriffe der Freyheit, und sagen nicht, sie sey eine Krafft zu wehlen, sondern, sie sey eine Krafft zu wollen.  
  Indessen aber wird doch damit nicht geleugnet, daß bey der Freyheit eine Wahl, und zwar formal, statt haben könne, sondern wir haben schon zugestanden, daß es in den meisten Fällen so sey, und es wird auch solches durch die Definition der Freyheit mit eingeschlossen und zugelassen. Denn wenn man die Krafft hat, nach eigenem Belieben nur das zu wollen, was man als gut erkennet, und das nicht zu wollen, was man sich als böse vorstellet, so wird man ja auch in dem Falle, da man zwey Objecte vor sich hat, sich auch beyde vorstellet, und zwar das eine, als gut und das andere, als böse ansiehet, das eine wollen und nehmen, das andere nicht wollen und fahren lassen können. Und das heist eine Wahl, und zwar eine formale.  
  Hieraus wollen wir nun wieder einige Folgen ziehen, die einer Betrachtung nicht gantz unwerth scheinen:  
 
1) Es ist nicht schlechterdings wahr, wo (würcklich) keine (formale) Wahl ist, da ist auch keine Freyheit, oder wo Freyheit ist, da ist auch würcklich eine Wahl: Ob es gleich wahr ist, wo Freyheit ist, da (ist nicht, sondern da) kan auch würcklich eine Wahl seyn. Und also, wo keine Wahl seyn kan, da ist auch keine Freyheit, d.i. wo bey einer würckenden Ursache kein Vermögen zu wehlen ist, da ist auch keine Freyheit. Das sind alles unterschiedene Dinge, die sich nun aus dem bisherigen Discurse leicht verstehen, unterscheiden und erweisen lassen.
 
 
2) Es ist unseres Erach-
 
  {Sp. 699|S. 363}  
 
tens eine überflüßige Determination, wenn man zu dem General-Begriffe der Freyheit erfordert, daß man aus zweyen gleich möglichen Dingen eins erwähle. Denn es dürffen eben nicht allemahl zwey Dinge da seyn, sie sind auch nicht allemahl da. Man kan seine Freyheit auch gegen eins beweisen. Es dürffen auch nicht eben mögliche Dinge seyn; man kan seine Freyheit auch gegen unmögliche Dinge beweisen.
 
 
Endlich dürffen es auch nicht eben zwey gleich mögliche Dinge seyn; man kan auch seine Freyheit beweisen, wenn man ein mögliches einem unmöglichen, und ein leichtes einem ungleich schwehrern, vorziehet. Z.E. Wenn einem bey einer Feuers-Brunst seine Thür verfallen ist, und er also erwehlete, durch das Fenster zu springen, das noch offen ist, und nicht, wie sonst, mit Gewalt durch die verfallene Thür, oder gar mit dem Kopffe durch die Wand wolte. Es darff über dieses alles nicht allemahl würcklich eine Wahl dabey seyn; man kan auch Freyheit üben, ohne formales Wehlen.
 
 
3) Wenn auch gleich nur eine Welt, so wohl in sich selbst, absolut, als auch folglich in Absicht auf GOtt, und zwar physicalisch, möglich gewesen, oder auch nur eine unter allen GOtt anständig, und ihm also nur allein moralisch möglich gewesen wäre: So hätte sie doch GOtt frey erschaffen können; und wäre die Schöpffung doch eine freye Schöpffung gewesen.
 
 
Wir finden, daß verschiedene Gelehrte sich darüber Scrupel gemacht, und gemeynet haben, wo die Schöpffung eine freye Schöpffung seyn solte, so müste man annehmen, daß mehrere gleich mögliche und darunter auch mehrere gleich gute, oder GOtt anständige, Welten gewesen wären, und daß GOtt denn eine daraus vor andern zu der Würcklichkeit gebracht hätte. Unsers Ermessens aber ist solches nicht nöthig, und kommt der Scrupel wohl nur daher, daß man in den Gedancken stehet, wo würcklich keine Wahl unter zwey, und zwar gleich möglichen Dingen sey, da sey auch würcklich keine Freyheit, oder keine freye Handlung, (davon wir aber jetzt das Gegentheil gesehen haben).
 
 
Wir fügen nur noch dieses bey, daß, wenn man auch eine formale Wahl zu der Freyheit erfordern wolte, so würde doch solche bey GOtt, wie allemahl, also auch in dem Falle statt finden, ob sie gleich nicht allemahl bey den Menschen ist. Denn er wehlte ja doch in dem ersten Falle, die eine mögliche Welt zu schaffen, da er sie auch nicht hätte schaffen können. Und zwar nach seiner Allwissenheit lässet es sich ja nicht anders dencken, als daß er sich auch das Nicht-schaffen habe mit vorgestellt, und das Schaffen demselben wissentlich vorgezogen; und das heisset eine formale Wahl.
 
 
In dem andern Falle, aber, wehlte er ebenso wissentlich diese ihm allein anständige Welt, vor den andern möglichen, die ihm nicht so anständig wären: Und das ist wieder eine formale Wahl. Allein, wenn wir auch nur eine eintzige mögliche Welt setzen, und nicht einmahl daran gedencken wolten, daß doch eine Wahl bey GOtt unter dem Schaffen und Nicht schaffen gewesen: So wäre es doch eine freye Schöpffung,
 
  {Sp. 700}  
 
weil GOtt solche einige mögliche Welt doch aus einem innern Triebe und Beliebung, nur darum, und aus keiner andern Ursach, gewolt, als weil er sie sich als gut vorgestellt hätte: Und das heisset schon eine wahre Freyheit, oder freye Handlung.
 
  Indem wir dieses der Wahrheit gemäß behaupten, geben wir damit gantz gerne zu, daß, wenn unter mehrerm Guten eines, vor andern, zu nehmen ist, die Vollkommenheit des Göttlichen Willens erfordere, das allerbeste zu erwehlen, das ist, welches unter allen Gütern den grössesten Grad enthält. Nähme GOtt nicht das Beste, könnte man seinem Willen an Vollkommenheit was zusetzen, es wäre möglich, einen zu gedencken, der es besser machte, und so hätte GOtt folgends nicht die höchste Vollkommenheit.  
  Allein wir müssen hiebey nicht gedencken, daß gleich dasjenige das beste sey, was wir davor halten; wir dürffen auch nicht die grossen Thaten GOttes nach unsern unweisen Handlungen abmessen. GOtt setzt allen Dingen die richtigsten Endzwecke, und nach diesen richtet er die vollkommensten Mittel ein, die, seinen Endzweck zu erhalten, die geschicktesten sind. Also heisset hier dasjenige das allerbeste, und welches GOtt, erwehlet, das seinen weißlich gesetzten Endzweck auf das vollkommenste zu erhalten vermögend ist.  
  Daraus mögen wir auch wahrnehmen, was dazu gehöre, wenn man sagen will, was Göttlicher Wille und das beste sey. Zuförderst müssen wir wissen, was GOtt in seinen Wercken für Absichten gesetzet habe; was nun solche am besten erhalten kan, das hat GOtt, nach seinem höchst vollkommenen Willen, erwehlet. Was aber GOtt erwehlet hat, ist freylich, und ausser Streit, das beste. So gelangen wir erst richtig zu Begriffen von der Vollkommenheit dessen, was in der Welt ist. Sind wir nicht vermögend, solches einzusehen, wie in besondern Fällen vor gäntzlichem Ausgange der Sache vielmahls nicht möglich ist, müssen wir uns lieber des Urtheilens enthalten, und unserer verwegenen Vernunfft gehörige Schrancken setzen. Der eintzige Maaß-Stab, Ursach und Quelle aller Vollkommenheit ist der Endzweck der Dinge; derowegen kan auch unser Verstand, in Beurtheilung der Vollkommenheit einer Sache, wenn er nicht fehlen will, keinen andern Grund, als ihren Endzweck, erwählen.  
  Wir wollen die Deutung abermahl auf die Welt machen, weil wir uns dieses Exempels bereits bedienet haben. Wie überhaupt die Welt beschaffen seyn müsse, zeiget die Erklärung und Zusammenhang des Endzweckes; vergleichet man aber diesen Begriff der Vollkommenheit mit der Einrichtung gegenwärtiger Welt, so erfähret man, ob sie auch die von GOtt anerschaffene Vollkommenheit annoch besitze. Nicht richtig aber kan man verfahren, wenn man die beste Wahl GOttes zu dem Grunde setzet, und hernach aus Erfahrung die Beschaffenheit gegenwärtiger Welt wahrnimmt, so dann ferner alles zu der Wahl GOttes und ihrer Vollkommenheit rechnet, was nur Gutes und Böses sich darinnen findet. Denn die Vollkommenheit der Welt ist veränderlich: Ob GOtt daher gleich die beste erwäh-  
  {Sp. 701|S. 364}  
  let hat, ist es doch nicht nothwendig gewesen, daß sie ihre Vollkommenheit hat behalten müssen. Derowegen hat die Wahl GOttes und die Vollkommenheit der Welt keinen nothwendigen Zusammenhang, daß man von jener auf diese ohne Gefahr und sicher schliessen könnte.  
  Die Freyheit zu wehlen, welche bey GOTT in der grössesten Vollkommenheit angetroffen wird, ist auch bey den Menschen, als vernünfftigen Geschöpffen anzutreffen. Schon aus dem Lichte der Natur erkennen wir, daß ehemahls der Mensch eben dieser seiner Freyheit, und von GOTT erlangten Vollkommenheit zu dem Guten, gemißbrauchet, und sich selbst zu demjenigen gewendet habe, was böse und von GOTT verboten gewesen, und daß eben diese böse Wahl und Sünde der eigentliche Grund des Falles, und der erste Baum alles menschlichen Verderbens sey: Ob uns schon, ohne die Offenbahrung, nicht zu schliessen möglich, wie es nach allen Umständen damit zugegangen ist.  
  Doch auch nach der in dem Menschen vorgegangenen Veränderung, hat der Mensch, (zwar keinesweges in wahrhafftig Geistlichen, als zu welchen er gäntzlich ungeschickt befunden wird, doch in pädagogischen, bürgerlichen, und natürlichen Dingen) noch eine Wahl-Freyheit; sonderlich in solchen Umständen, die nicht zu dem Wesen einer Handlung gehören. Z.E. Zu dem Essen und Trincken ist der Mensch durch das Gesetz der Natur verbunden. Wer gar nicht essen und trincken wolte, der würde sich selbst um das Leben bringen, und also das Natur-Gesetz übertreten. Ob aber ein Mensch des Tages ein- oder zweymahl, ein oder zwey Gerichte eine Stunde früher oder später essen will, das ist durch das Natur-Gesetz nicht determiniret. Folglich hat der Mensch in solchen Dingen seine Freyheit, und wenn er sich derselben gebraucht, so darf er nicht besorgen, daß er das Natur-Gesetz übertreten werde. Deswegen aber ist das Essen und Trincken selbst keine indifferente Handlung. Denn das Natur-Gesetz verbindet den Menschen, zu seiner Erhaltung zu essen und zu trincken, und das Moral-Gesetz verbindet ihn zu der Ehre GOttes zu essen und zu trincken. Durch diese Gesetze bekommt das Essen und Trincken seine Moralität, obwohl die indifferenten Umstände desselben der freyen Wahl des Menschen überlassen sind.  
  Der berühmte Bischoff, G. King, ein Engelländer, welcher ein fürtreffliches Werck vom Ursprunge des Bösen geschrieben, hat in dem V. Capitel … behauptet, daß uns die Dinge in der Welt deswegen gefielen, weil wir sie willkührlich erwehlten. Er macht also die Wahl zu der stärcksten Ursache der Glückseligkeit, und giebt vor, daß der Mensch bey dem Wehlen das grösseste Vergnügen empfindet. Er nimmt zwar auch an, daß, da einige Dinge möglich, andere unmöglich, einige unsern Sinnen angenehm, andere unangenehm sind, wir solche Dinge erwehlen müsten; die nicht unmöglich und unserm Zustande zuwider sind. Doch, da er glaubt, daß  
  {Sp. 702}  
  es bey endlichen Gütern gantz auf unserer Wahl beruhe, die Glückseligkeit hier oder darinnen zu empfinden, und also in unserer Gewalt stehe, eine Sache gut oder böse anzusehen, so macht er den Menschen zu gantz absoluten Herren ihrer Handlungen, und unterwirfft das Reich der Geister dem Eigensinne der Creaturen.  
  Die Erfahrung widerspricht dieser Meynung auch, indem wir wahrnehmen, daß wir bereits von den ersten Jahren an zu einigen Dingen mehr geneigt sind, als zu andern, und nicht in im Stande sind, es durch eine Wahl zu ändern. Wenn wir auch untersuchen, wie es zugehet, daß wir das Böse erwehlen können: So finden wir, daß solches unmittelbar daher komme, weil wir uns bey der Sache das vorstellen, was mit einem erregten Grund-Triebe übereinstimmt. Mittelbar trägt die Wahl etwas hiezu bey, indem der Verstand durch sie auf das Object eines besondern Grund-Triebes gerichtet wird. Indessen leugnen wir nicht, daß die Freyheit zu wehlen einer von den Grund-Trieben ist, welcher, wie alle andere Grund-Triebe, bey einem Menschen stärcker, als bey dem andern ist.  
  Wenn man eine wahrscheinliche Ursache von des Herrn Kings Meynung angeben wolte, dürffte man nur sagen, daß bey ihm der Grund-Trieb zu der freyen Wahl viel stärcker, als bey andern Menschen, gewesen sey.  
  Dem, was wir bisher von der Wahl einer Sache vorgebracht haben, fügen wir noch die Erklärung des Biblischen Spruches Sirach XV, 14. u.f. bey, wo es heisset; Er hat den Menschen von Anfange geschaffen, und ihm die Wahl gegeben. Wilt Du, so halte die Gebote, und thue, was ihm gefällt, im rechten Vertrauen. Das ist, der erste Mensch ist samt seinem freyen Willen erschaffen worden, daß er GOttes Gebot halten möge, oder nicht. Sirach widerleget allhie diejenigen, welche die Ursache ihrer Sünden GOtt zuschreiben, als ob sie durch göttlichen Antrieb darzu gereitzet würden, daß sie nicht anders thun könnten; da doch GOtt das menschliche Geschlecht zu Anfang ohne Sünde erschaffen habe: Darum man ihm keine Schuld geben könne, daß die Menschen böse und gottlos seyn.  
  In den heiligen Schrifften finden wir, daß der Herr vier Personen, die auch alle Könige waren, eine Wahl unter etlichen vorgelegten Stücken überlassen, durch diese besondere Gnade ihre Würde über andere Menschen zu erkennen gegeben, auch zugleich, wie hoch ihre gerechten Begierden geachtet werden müsten, angezeiget habe. Er hat sie darinnen seinem Sohne einiger massen gleich gemacht, dem er auch so eine Freyheit giebt, zu fordern, was ihm gefällt, Psalm II, 8.
  Diese vier Könige waren  
 
  • David, welchem der HErr eine Wahl zwischen den vorgelegten Plagen überließ,
2. Sam. XXIV, 12;
 
  • Salomo, dem er anheim stellete, welchen Segen er wählen wolte,
1. Kön. III, 5;
 
  • Achas, dem er die Freyheit gab, ein Zeichen zu wählen, welches er an den Himmel oder auf Erden wolte;
Esaiä VII, 11;
 
  • und Hiskias, dem er die Wahl antragen ließ, wel-
 
  {Sp. 703|S. 365}  
  ches er aus 2 Zeichen wolte, entweder, daß der Schatten 10 Grad für sich, oder so weit zurück gehen solte, 2. Kön. XX, 9.
  David, Salomo und Hiskias haben, in Annehmung dieser Wahl, ihren Gehorsam bewiesen. Denn ob es wohl scheinen möchte, als ob sie besser gethan haben würden, wenn sie GOTT die Wahl übergeben hätten, daß er ihnen zusenden und geben möchte, was ihm das herrlichste und ihnen das seligste wäre; so würde doch solches, unter dem Scheine der Niedrigkeit, ein Ungehorsam gewesen seyn: Wodurch sie GOttes Zweck und Gebot zunichte gemacht haben würden, der da wolte, daß sie wehlen solten. Als dahero Achas zu wehlen sich weigerte, rechnete es GOtt für eine Versuchung, und erzürnte sich sehr darüber
  • Jes. VII, 12. 13.
  • Biblisches Real-Lexicon, Th. II. …
  • Burmanns Bibl. Wercke …
     

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Stand: 26. Februar 2013 © Hans-Walter Pries