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Zedler: Wahrscheinlichkeit [4] HIS-Data
5028-52-1020-7-04
Titel: Wahrscheinlichkeit [4]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 52 Sp. 1051
Jahr: 1747
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 52 S. 539
Vorheriger Artikel: Wahrscheinlichkeit [3]
Folgender Artikel: Wahrscheinlichkeit, (gemeine)
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen
  • : Absatz in der Vorlage vorhanden
  • Transkribierter griechischer Text der Vorlage

vorhergehender Text  Teil 3 Artikelübersicht  

Übersicht
III. Eintheilung der Wahrscheinlichkeit (Forts.)
 
IV. Von der Politischen Wahrscheinlichkeit
V. Von der Practischen Wahrscheinlichkeit
VI. Von der gemeinen Wahrscheinlichkeit

  Text Quellenangaben
  IV Von der Politischen Wahrscheinlichkeit.  
  Die Politische Wahrscheinlichkeit, von der schon oben in dem XXIIX Bande, p. 1230 u.f. gedacht worden ist, die wir aber allhier etwas ausführlicher abhandeln müssen, hat die menschl. Thaten zu ihrem Objecte, deren Wesen, Absichten und Moralische Grund-Ursachen zu untersuchen sind. Wer darinnen eine Geschicklichkeit erlangt, der hat einen guten Grund der Klugheit zu leben, und insonderheit einen vernünfftigen Umgang mit andern Leuten zuhaben, welches die Ursache, warum diese Wahrscheinlichkeit die Politische genennet wird.  
  Indem wir sagen, es beruhe auf dieser Wahrscheinlichkeit die Klugheit zu leben, folglich ein grosser Theil des menschlichen Glücks und Unglücks, so haben wir von ihrem Nutzen gnug gesaget. Denn hiedurch erkennen wir, wie weit uns Jemand nützlich, oder schädlich, seyn kan, folglich, so lange wir unter andern Menschen leben, und durch dieselben unser Glück in der Welt mit machen müssen, haben wir dadurch Gelegenheit, uns in die Leute schicken zu lernen, damit sie uns nützen, oder doch nicht schaden mögen.  
  Der vielfältige Unterschied, den wir in den Thaten und Arten zu verfahren  
  {Sp. 1052}  
  bey unterschiedenen Menschen gewahr werden, zeiget sattsam an, daß sie aus unterschiedenen Grund-Ursachen entspringen müssen. Alle Ursachen aber, durch welche das menschliche Gemüth zu willkührlichem Thun determiniret wird, lassen sich füglich unter folgende, deren eine aus der andern ordentlich entstehet, bringen:  
  Die erste und näheste ist ein gewisser Zweck, wegen welches das Gemüth zu einer That sich entschliesset, und sie auf denselben abrichtet; Welcher allezeit etwas zukünfftiges ist.  
  Die andere ist die antreibende Ursache, (Causa impulsiva) durch welche das Gemüth, solchen Zweck sich vorzusetzen, determiniret wird; Welche allezeit etwas gegenwärtiges ist: Und zwar theils ein in dem Gemüthe erregter Affect, welchen man die innerliche antreibende Ursache, (Causam impulsivam internam, oder [ein Wort Griechisch]) nennet; Theils das Object, oder vielmehr dessen Idee in dem Verstande, die den Affect erreget, welche die äusserliche, (externa, oder [ein Wort Griechisch]) heisset.  
  Folglich können wir alsdenn sagen, daß wir das moralische Wesen der Thaten, oder des Verfahrens der Menschen, verstehen, wenn wir erstlich die Zwecke, wegen welcher sie sich zu gewissen Thaten entschliessen, zweytens die Affecten, durch deren Trieb sie solche Zwecke suchen, drittens die Ideen, oder Vorstellungen des Verstandes, durch welche die Affecten erreget werden, einsehen.  
  Nun ist die Beschaffenheit, oder Fähigkeit, des Verstandes, in Ansehung des Gedächtnisses, Judicii und Ingenii, so wohl von der Natur, als auch in Betrachtung der Cultur, in so unzähligen Gemüthern auf unzähliche Art unterschieden, daher leicht zu erachten ist, daß, nach solchem Unterschiede, die Überlegungen des Verstandes, welche die Menschen anstellen müssen, ehe ihre menschlichen Thaten aus denselbigen entspringen, nicht in aller Menschen Gemüthern einerley seyn können.  
  So sind auch die Affecten des Willens, unter welchen die drey herrschenden oder Haupt-Neigungen, Wollust, Ehrgeitz und Geld-Geitz, der Brunnquell der übrigen sind, in so vielerley Gemüthern, von unterschiedener Stärcke und Lebhafftigkeit. Dahero dann erfolget, daß, nach den obgedachter massen, die Überlegungen des Verstandes und Reitzungen der Affecten unterschiedlich sind, die Menschen zu unterschiedenen Zwecken sich entschliessen; Welche Entschließungen so dann in eben so vielerley äusserliche Thaten, und Arten zu verfahren, ausbrechen.  
  Keine, von allen obgedachten Absichten, Anschlägen, Überlegungen, Affecten, oder Zuneigungen, und Entschliessungen der Menschen zu gewissen Zwecken, die der Grund ihrer Thaten sind, fället zugleich mit ihren Thaten in die Sinne, sondern sie sind in dem Innersten ihres Hertzens verborgen. Über dieses ist das Stellen und Verstellen der Menschen so gemein, daß in dem menschlichen Verstande immer ein und der andere Zweiffel übrig bleibet. Folglich kan hier kein anderer Schluß, als ein wahrscheinlicher, Statt haben, in dem keine gewissen Principia vorhanden sind, sondern nur aus gewissen Kennzeichen geschlossen werden muß, so, daß noch allezeit eine gegenseitige Möglichkeit statt haben kan.  
  Es irren demnach diejenigen, welche in dieser Kunst so weit gekommen zu seyn sich düncken lassen, daß sie einem des andern Gemüths-  
  {Sp. 1053|S. 540}  
  Beschaffenheit gantz genau, nach allen Graden, auf eine untrügliche Gewißheit, entdecken wollen. Da wir nun aber gleichwohl, zu kluger Einrichtung unsers Verfahrens, immerfort von nöthen haben, von den Absichten anderer, und von dem Grunde derselben, bey Zeiten Nachricht zu haben: So müssen selbige unstreitig, in Ermangelung mehrerer Gewißheit, nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit, aus der Übereinstimmung gewisser Umstände, erforschet werden.  
  Es ist daher die Politische Wahrscheinlichkeit diejenige Art der Wahrscheinlichkeit, durch welche wir, aus der Übereinstimmung gewisser Umstände der Menschen, ihre Gemüths-Arten, Absichten, und geheimen Anschläge, vermuthen. Man betrachtet hierbey:  
 
1) Die Sache, welche man hier wahrscheinlich erkennet.
 
 
Die verborgenen Anschläge der Menschen sind die zu vermutenden Hypotheses; Und wir haben so wohl auf etwas gemeines, als auf etwas besonders, zu sehen.
 
 
Das Gemeine ist überhaupt die innerliche Gemüths-Art eines Menschen, so fern sich selbige auf den Verstand und Willen beziehet: Da wir denn die Art seiner daher entspringenden Anschläge insgemein, ohne Absicht auf eine besondere Begebenheit, zu entdecken suchen. Was den Verstand anlanget, so ist die Beschaffenheit oder Fähigkeit desselbigen in Ansehung des Gedächtnisses, Judicii und Ingenii so wohl von Natur, als auch in Betrachtung der Cultur in so unzähligen Gemüthern auf unzehliche Art unterschieden.
 
 
In Ansehung des Willens sind die drey Haupt-Neigungen, Wollust, Ehrgeitz und Geldgeitz auch in so vielerley Gemüthern von unterschiedener Stärcke und Lebhafftigkeit. Solche Gemüths-Art überhaupt untersuchet man bey dieser Wahrscheinlichkeit, wie selbige so wohl von Natur, als Cultur beschaffen, daß man erkenne,
 
 
  • ob jemand vernünfftig oder unvernünfftig; von einem guten oder schlechten Judicium; von einem lebhafften oder schläffrigen Ingenio; von einem hurtigen oder langsamen Gedächtnisse sey:
  • Ob man Ehrgeitzig oder wollüstig, oder geldgeitzig, oder gewinnsüchtig sey;
  • wie weit man Meister seiner Affecten, sey,
  • und wie weit es ein Mensch in der Cultur der Gaben seines Verstandes gebracht habe;
  • wie gerecht und redlich, oder ungerecht, falsch und boshafft; klug oder arglistig, oder alber; weise, oder unweise,man sey?
 
 
Dergleichen generale Hypothesin, von der Gemüths-Art eines Menschen insgemein, nennet man sein Portrait, Genie, Character, und moralisches Temperament. Dieses Temperament, oder die Vermischung der unterschiedenen Fähigkeit, in Ansehung ihrer Lebhafftigkeit unter einander, betrachten wir
 
 
 
a) an und vor sich selbst.
 
 
 
  Der menschliche Verstand ist, wie gedacht, mit drey Fähigkeiten, als dem Gedächtnisse, Ingenio, und Judicio versehen, welche in Ansehung ihrer Lebhafftigkeit, auf dreyerley Arten vermischet seyn können;
 
 
 
 
  • Daß einmahl nur eine von diesen dreyen die Oberhand habe,
  • hernach zwey in gleichem Grade stehen,
  • und dann alle drey in gleicher Lebhafftigkeit sich befinden.€
 
 
 
  In dem Willen sind die drey Haupt-Neigungen Ehrgeitz, Geld-€
 
  {Sp. 1054}  
 
 
  geitz und Wollust, welche eben, wie bey dem Verstande, auf dreyerley Art, ihrer Lebhafftigkeit nach, vermischet seyn können. Wer demnach unter andern weiß, daß Sempronius, dem Verstande nach, sehr judicieus, mittelmäßig ingenieus, und mit dem Gedächtnisse schlecht versehen; In dem Willen, in dem höchsten Grade hochmüthig, mittelmäßig wollüstig, und am geringsten Geldgeitzig sey, der weiß dessen Gemüths-Beschaffenheit.
 
 
 
b) In Relation gegeneinander, da man die Beschaffenheit des Verstandes und Willens gegen einander halten muß, daß man weiß, ob ein Mensch, bey seinem Ehrgeitze, judicieus, oder nicht sey, u.s.w.
 
 
 
  Diese Erkänntniß solcher Verknüpffung ist um desto nöthiger, weil die Neigungen in dem Willen, durch die Fähigkeiten in dem Verstande, gar sehr gestärcket und modificiret werden können. Daß also ein Hochmüthiger, der Verstand darbey hat, noch einmahl so mächtig, einem entweder zu helffen, oder zu schaden, als ein anderer, der, bey seinem Hochmuthe, dumm und einfältig ist.
 
 
 
  Zwar pfleget man insgemein die drey Fähigkeiten des Verstandes, nach den drey Neigungen in dem Willen, so zu ordnen, daß das Judicium bey dem Ehrgeitzigen, das Ingenium bey dem Wollüstigen, und das Gedächtniß bey dem Geldgeitzigen sey; Allein es ist dieses nicht allgemein, und man hat aus der Erfahrung viel gegenseitige Exempel.
 
 
Die andere oder speciale Art der politischen Wahrscheinlichkeit, zeiget sich bey allen besondern vorfallenden Begebenheiten, da, aus dem Grunde der Gemüths-Art eines Menschen, ingleichen der gegenwärtigen Conjuncturen, und seines würcklichen Bezeigens bey denselben, vernünfftig zu vermuthen ist, wie er, bey einer gewissen jetzt vorfallenden Begebenheit, vielleicht gesinnet seyn möge; Was vor Überlegungen er wohl dabey, allem Ansehen nach, haben möge; Was vor Erregungen der Affecten dabey in ihm entstehen, und was vor Absichten er wohl, nach aller Wahrscheinlichkeit, dabey haben müsse.
 
 
2) Der Grund bestehet in dieser politischen Wahrscheinlichkeit ebenfalls in der Übereinstimmung gewisser Umstände, wodurch wir hier moralische Umstände, oder das äusserliche Verfahren, verstehen: Mit Zuziehung der Sachen, oder Begebenheiten selbst, in Ansehung deren sich solches Verfahren äussert.
 
 
Nach dem zweyfachen Objecte, so vermuthet wird, sind also die Umstände unterschieden. Denn die Gemüths-Arten eines Menschen schliesset man aus solchen Umständen, die dessen Reden und Thaten betreffen; Fallen nun besondere Begebenheiten vor, und man will vermuthen, wie sich ein Mensch dabey aufführen, was er vor Absichten führen, vor Rathschläge und Überlegungen anstellen, werde, wie sich die Affecten bey ihm verhalten dürfften, so lässet sich dieses gar wahrscheinlich aus der erkannten Gemüths-Art schliessen. Denn die würcklichen Thaten und die Gemüths-Art verhalten sich gegeneinander, wie eine Würckung gegen ihre Ursache, daß daher man von der Gemüths-Art auf die Verrichtungen, und von diesen wider auf die Gemüths-Art, schliessen kan.
 
 
Die nöthigsten Regeln, die etwa bey der politi-
 
  {Sp. 1055|S. 541}  
 
schen Wahrscheinlichkeit zu beobachten sind, gehören zwar eigentlich zu den Grundlehren der Klugheit überhaupt und insonderheit der Erkänntniß der menschlichen Gemüther; Weil sie aber daselbst nicht abgehandelt worden sind, wollen wir sie allhier, nach dem Exempel der vorhergehenden Arten der Wahrscheinlichkeit, mit wenigem berühren.
 
 
Unsere erste Anmerckung wird theoretisch seyn: Aus was für Zeichen des Gemüths-Beschaffenheit zu erforschen sey? Bey der Erkänntniß der Fähigkeiten und Kräffte des Verstandes, und zwar erstlich des Gedächtnisses, ist zu mercken, daß derjenige, welcher in Auswendig-Lernung gewisser Gedächtniß-Mittel, dahin die Gedächtniß-Bilder gehören, von nöthen hat, keine sonderliche Gedächtniß-Krafft besitzet, sondern, wann ihm solche zustatten kommen, an dem Ingenio mehr vermag.
 
 
Wer dasjenige, was er verstehet, leichter erlernet, als das, was er nicht verstehet, dessen Gedächtniß ist nicht so gut, sondern mit dem Judicio verknüpffet. Wer eben so leichte dasjenige, was er nicht verstehet, als was er verstehet, ohne Beyhülffe gewisser Bilder, erlernet, dessen Gedächtniß wird entweder das Ingenium, oder das Judicium bey sich haben. Wer leicht etwas erlernet, und schwer vergisset, dessen Gedächtniß ist an sich selbst sehr gut, und zeiget entweder eine Verknüpffung des Ingenii, oder des Judicii, an. Wer etwas schwer erlernet, und nicht leicht vergisset, dessen Gedächtniß ist ebenfalls an sich sehr gut, einen solchen Menschen fehlet es aber an dem Ingenio und Judicio.
 
 
Was das Ingenium betrifft, so kan man solches insonderheit an den Schertz- Reden, die Jemand vorbringt, erkennen. Wer viel schertzet, bey dem stehet das Ingenium entweder oben, oder in der Mitte. Kommen einige Schertze ungeschickt heraus, so ist es eine Anzeige, daß ein solcher Mensch nicht gnugsames Judicium habe; Ist dieses aber nicht, so kan man schliessen, daß er so wohl ein Ingenium, als Judicium, besitze: Und wenn er sich derselben öffters, jedoch auf eine geschickte Art, bedienet, so erhellet hieraus, daß bey ihm das Ingenium lebhaffter, als das Judicium, ist. Die satyrische Schreib-Art, wenn sie ungezwungen, fliessend und natürlich ist, die Erdichtungen, die Poeterey, die Verschlagenheit, sind ebenfalls Anzeigen eines lebhafften Ingenii; Und je grösser jemand ein Narr ist, je mehr Ingenium, und je weniger Judicium, hat er.
 
 
In Ansehung des Judicii, hat derjenige, welcher abstracte Sachen verstehet, demonstrative Wahrheiten erfinden, die Wahrheiten einsehen und beurtheilen kan, ein gutes Judicium. Wer in Erfindung wahrscheinlicher Wahrheiten glücklich ist, bey dem ist das Ingenium mit dem Judicio vermischet. Wer das wahrscheinlich-Wahre mit dem gewiß-Wahren vermischet, schlechterdings vor dem Disputiren einen Abscheu hat, die wahre Philosophie verachtet, (wofern dieses nicht aus einem Vorurtheil geschiehet) derselbe ist mit einem sehr schlechten Judicium versehen.
 
 
Die Hof-Leute müssen ein gutes Ingenium, die Rechts-Gelehrten ein gutes Judicium, der Pöbel ein Gedächtniß, die
 
  {Sp. 1056}  
 
Theologen ein Judicium und ein Gedächtniß, die Medici ein Judicium und Ingenium, und die Philosophen alle drey Fähigkeiten, in guter Lebhafftigkeit haben.
S. Rüdigern in Institut. Erudition. p. 599. u.ff. Ausg. 3.
 
Von welcher Materie auch nachzulesen sind:
  • Janus Huartus, in Scrutinio ingeniorum,
  • Richerius, in Obstetrice animor.
  • Tuldenus, de Cognitione sui
  • Lange, in Protheoria Erud. human.
  • nebst andern.
 
Was den Willen betrifft, so pfleget man hier allerhand Kennzeichen, deren man sich bedienen soll, anzugeben, und solche in die natürliche und moralische, und die natürlichen wieder in solche, die mit den Neigungen eine Verwandtschafft haben, und in die, da dergleichen Verwandtschafft nicht ist, einzutheilen.
 
 
Zu denjenigen Kennzeichen, welche mit den Neigungen eine Verknüpffung haben, rechnen sie
 
 
 
 
Das Temperament soll man aus
 
 
  • der Farbe des Gesichts,
  • der Sprache,
  • den Augen,
  • Leibes-Gestalt,
  • Beschaffenheit der Haut,
  • aus dem Gang,
  • u.s.w.
 
 
erkennen.
 
 
Die Farbe anlangend, so soll ein Cholericus schwärtzlich und röthlich, ein Melancholicus schwartz und blaß, ein Sanguinischer weiß und roth, ein Phlegmatischer weiß und blaß, aussehen.
 
 
Ein Cholerischer soll männlich, helle, geschwinde, ein Melancholischer männlich, rauh und langsam, ein Sanguinischer, weibisch, helle, geschwinde, ein Phlegmatischer weibisch, rauh und langsam reden.
 
 
Ein Cholericus sieht ernsthafft und munter, ein Melancholischer mürrisch und matt, ein Sanguinischer freundlich und munter, ein Phlegmatischer freundlich und matt.
 
 
Ein Cholerischer und Melancholischer ist hager, ein Sanguinischer mittelmäßig fett und wohl gewachsen, ein Phlegmatischer sehr fett und schwülstig.
 
 
Ein Cholerischer fühlet sich hart und warm, ein Melancholischer hart und kalt, ein Sanguinischer weich und warm, ein Phlegmatischer weich und kalt an.
 
 
Ein Cholerischer gehet steiff und gravitätisch, ein Sanguinischer lustig und hurtig, ein Phlegmatischer verdrossen und negligent, ein Melancholischer geschwinde und auch negligant.
 
 
Auf solche Weise, sagen sie nun, wenn man weiß, dieser oder jener, habe ein sanguinisches Temperament, er ist sehr weichlich erzogen worden, ist mit lauter üppigen Leuten umgegangen, befindet sich in dem Jugend-Alter, und lebet jetzo auf der Universität, u.s.w. So konnte man wahrscheinlich schliessen, er müsse der Neigung zu der Wollust, und den damit verknüpfften Begierden, ergeben seyn.
S. Heumann, in Polit. Philosoph. Cap. 3.
 
Die Zeichen, welche mit denen Neigungen keine Verwandtschafft haben, sind die, welche kurtz vorhero, bey Erforschung der Temperamenten, angegeben worden sind.
 
 
Die moralischen Kennzeichen sind besser beschaffen, welche hauptsächlich auf die Werthe und Wercke ankommen. Denn wessen das Hertz voll ist, gehet der Mund über, und an ihren Früchten solt ihr sie erkennen, heißt es aus dem Munde der ewigen Weißheit. Ein jeder redet am liebsten und meisten von dem, was mit sei-
 
  {Sp. 1057|S. 542}  
 
ner Neigung übereinkommt. Die Discourse eines Wollüstigen, handeln von dem Schmaussen, Spatziergehen, schönen Raritäten, Spielwercken, Frauenzimmer; eines Geitzigen, von theuren u. wohlfeilen Zeiten, von Haußhaltungs-Sachen; eines Ehrgeitzigen, von Staats-Dingen.
 
 
Eben so ist es mit den Wercken beschaffen, weil ein jeder dasjenige am meisten thut, wozu er von seiner herrschenden Meynung getrieben wird. Ein Wollüstiger liebet Gesellschafften, Frauenzimmer, Essen und Trincken; ein Geitziger bekümmert sich um sein Interesse; Und ein Hochmüthiger um das, so ihm Ehre bringt.
 
 
Es rechnen auch einige zu den Kennzeichen die Kleidung, derselben Farbe Manier, die Bücher, die man lieset, die Meublen und derselben Ordnung, ingleichen das Urtheil anderer von einer Person, wiewohl dieses letztere ohne Grund hieher gezogen zu werden scheinet. Denn eröffnen uns andere Leute blos ihr Urtheil von einem Menschen, so wär es eine Einfalt, wenn wir das von einem andern Menschen gefällte Urtheil annehmen wolten: Erzehlen sie uns aber die Verrichtungen einer Person, und machen darüber ihre Glossen, so können wir wohl einige Merckmahle daraus nehmen, welche uns einige Idee von der Person geben können; Aber unser Schluß gründet sich im geringsten nicht auf ihr Urtheil, sondern vielmehr auf die Thaten, welche erzehlet worden sind.
 
 
Die andere Betrachtung ist eine practische, wie man sich nun zu verhalten habe, wenn man anderer Gemüths-Beschaffenheit ausforschen will. In diesem Stück haben wir zweyerley Leute für uns. Etliche handeln in ihren Reden u. Verrichtungen offenbar nach ihren herrschenden Neigungen; welches wieder auf zweyerley Weise, in Ansehung der gedoppelten Offenhertzigkeit, geschiehet. Denn einiger ihre Offenhertzigkeit entspringet aus Unverstand; anderer ihre aber aus einer vertraulichen Liebe, wie zwey treue Ehegatten sich gegen einander nicht zu stellen, noch zu verstellen pflegen; und bey diesen Leuten hat man keiner grossen Kunst nöthig, hinter ihre herrschenden Neigungen zu kommen.
 
 
Andere hingegen pflegen sich zu stellen u. zu verstellen, u. wollen insonderheit ihre herrschenden Paßionen verbergen und halten mit denenjenigen Reden u. Verrichtungen zurück, wodurch sie verrathen werden könnten um eine gute Opinion entweder zu erlangen, oder die erlangte zu erhalten, für welche wir aber, durch die Kundmachung der herrschenden Neigung, Nachtheil besorgen, daher man auch wahrnehmen wird daß man in diesem Falle sonderlich vor diejenigen vor welche man Respect hat, und an deren Gunst einem was gelegen ist, sich zu stellen und zu verstellen gewohnet ist.
 
 
Eben deswegen, weil die Menschen, durch das Stellen u. Verstellen, mit ihrem Gemüthe hinter dem Berge halten, braucht man die Kunst die menschlichen Gemüther zu erforschen, welche auf drey Stücke ankommt;
 
 
Erstlich ist die Aufmercksamkeit nöthig, daß jemand auf anderer Leute Reden und Thaten fleißig Achtung giebet, und dabey bemühet ist, hinter die Absichten eines Menschen zu kommen.
 
 
Zweytens die Klugheit, welche hier hauptsächlich darauf ankommt, daß man solche Gelegenheiten mit Leuten, die wir ausforschen wollen, umzugehen absiehet, da sie ihr Stellen und Verstellen gemeiniglich an den Nagel hängen, dahin solche Conversationen gehören, da die Gesell-
 
  {Sp. 1058}  
 
schafften meistens aus gleichen Personen bestehen, ingleichen das Spielen, die Schmaussereyen, dabey die Menschen offt ihren Neigungen verrathen; nur muß man es sich nicht mercken lassen, daß man das Absehen habe, andere auszuforschen.
 
 
Drittens die Scharffsinnigkeit, daß wir die Kennzeichen, als die Reden u. Thaten, wohl appliciren, und den Unterschied der Menschen, in Ansehung ihres Standes, Alters, Geschlechtes, nicht aus den Augen setzen, Insonderheit sind dabey unterschiedene Cautelen zu mercken:
 
 
  • Man soll niemahls aus ein und dem andern Zeichen allein schliessen, sondern sehen, ob deren viele mit einander übereinstimmen.
  • Man soll niemahls aus einem eintzigen Wercke und einer besondern That urtheilen, weil offt die unterste Leidenschafft, durch ausserordentliche Zufälle, gereitzet worden seyn kan.
  • Man vermische die Schein-Tugenden nicht mit wahren Tugenden, und wisse, daß manche Schein-Tugend aus verschiedenen Neigungen kommen könne.
  • So hat man auch zu unterscheiden, ob etwas von der Natur, oder Gewohnheit herrühre.
 
 
Es können von dieser Materie nachgelesen werden:
 
 
  • Scipio Claramontius, de conjectandis cujusque moribus et latitantibus animi affectibus, in 10 Büchern, Venedig 1625, welche Conring wieder auflegen lassen, Helmst.1665.
  • Edo Neuhusens, in Theatro ingenii humani … in zwey Büchern, Amst. 1664.
  • de la Chambre, in der Frantzosischen Schrifft: l'art de connoitre les hommes, Amst. 1660, in deren andern Theil er die Kennzeichen durchgehet, daraus man die Menschen kennen lernen müsse.
  • Christian Thomasius, in der neuen Erfindung einer wohlgegründeten Wissenschafft, das Verborgene des Hertzens anderer Menschen, auch wider ihren Willen, aus der täglichen Conversation zu erkennen, welche Schrifft er besonders 1691. heraus gab, und sie nachgehends in die Sammlung seiner allerhand bisher publicirten kleinen deutschen Schrifften, ... brachte. Tentzel stellte darüber in den monatlichen Unterredungen, 1692 … eine Censur an, welches Thomasio Gelegenheit gab, in eben dem Jahre, weitere Erläuterung durch unterschiedene Exempel des ohnlängst gethanen Vorschlages, wegen der neuen Wissenschafft, anderer Menschen Gemüther erkennen zu lernen, zu ediren.
  • Julius Bernhard von Rohr, in dem Unterricht von der Kunst, der Menschen Gemüther zu erforschen, 1713. und 1715.
  • Joh. Georg Leutmann, in einem deutschen Tractat: Nosce te ipsum et alios, genannt, der das andremahl 1723. herausgekommen ist.
 
 
Es können auch verschiedene Dissertationen beygefüget werden. Als
 
 
  • Mülleri, Utrum ex facie hominis de animi inclinatione judicium ferre liceat? Wittenb. 1676.
  • Heineccii, de incessu animi indice.
  • Und diejenige, welche, unter Johann George Walchs Präsidio, de arte aliorum animos cognoscendi, 1723. gehalten worden ist.
 
 
Nicht weniger hat auch diese Art der Wahrscheinlichkeit
 
 
3) ihre Grade, die nach der Vielheit und Ermangelung der dabey nöthigen Umstände, und ihrer Übereinstimmung mit dem was hier wahrscheinlich zu erkennen, abzumessen sind.
 
     
  V. Von der Practischen Wahrscheinlichkeit.  
  Es ist noch die Practische Wahrscheinlichkeit zu  
  {Sp. 1059|S. 543}  
  erwegen, welche mit allen Arten der natürlichen und moralischen Dingen zu thun hat, sofern sie nach dem betrachtet werden, was künftig aus ihnen dürfte erfolgen. Eine solche Erkänntniß nennet man eine Muthmassung, oder eine Vermuthung, in engerem Verstande.  
  Denn was erstlich die natürlichen Dinge betrifft, so kan ein jedes, nicht allein als ein Effect nach seinen Grund-Ursachen, (welche durch die Physicalische Wahrscheinlichkeit zu erfinden sind) sondern auch wiederum als eine Grund-Ursache anderer daher zu erwartenden Würckungen, in Erwegung des fortwährenden Zusammenhanges der Natur, krafft dessen dasjenige, was eine Würckung vorhergehender Grund-Ursachen ist, immer wiederum eine Grund-Ursache zukünfftiger Würckungen wird, betrachtet werden.  
  So nöthig und nützlich nun eine fürsichtige Vorhersehung der Würckungen natürlicher Dinge ist, selbige klüglich zu gebrauchen: so kan doch solche Vorhersehung sehr selten mit demonstrativer Gewißheit geschehen: indem die Würckungen, die aus einer gegenwärtigen Grund- Ursache bevorstehen, nach dem Unterschiede einer Menge uns unbekannter Neben-Umstände, sehr vielerley seyn können. Derowegen müssen wir auch in diesem Stücke uns mehrentheils mit vernünfftigen Vermuthungen behelffen.  
  Gleichergestalt, was die moralischen Dinge, oder die willkührlichen Thaten der Menschen, anlanget, so sind selbige ebenfalls nicht allein als Effecte nach ihren moralischen Grund-Ursachen, (welche durch die politische Wahrscheinlichkeit erfunden werden) sondern auch wiederum als moralische Grund-Ursachen eines zukünfftigen Erfolges, zu betrachten. Da nun, solchen Erfolg gründlich vorher zu sehen, in allen Geschäfften des menschlichen Lebens ungemein nützlich und nöthig ist; und gleichwohl diese so unentbehrliche Fürsichtigkeit auf das Zukünfftige um so viel weniger apodictisch und gewiß seyn kan, je mehr die Ungewißheit, in welcher das menschliche Gemüth schon vorhin in Ansehung des Zukünfftigen schwebet, durch die Freyheit und Veränderlichkeit des menschlichen Willens vermehret wird: so müssen wir uns auch in diesem Stücke mit vernünftigen Vermuthungen begnügen lassen.  
  Es ist demnach die Practische Wahrscheinlichkeit diejenige Art der Wahrscheinlichkeit, durch welche wir, aus der Übereinstimmung gewisser Umstände, einen zu erwartenden Erfolg vorher sehen, oder vermuthen, damit wir, in unsern Unternehmungen, einen vernünfftigen Grund der Hoffnung und Furcht haben mögen.  
  Was insonderheit  
 
1) die Sache, die hier vermuthet und wahrscheinlich erkannt wird, oder die zu vermuthende Hypothesis, anlanget, so ist selbige einen Erfolg künfftiger Begebenheiten, die entweder natürliche oder moralische sind.
 
 
Jene werden aus der Übereinstimmung der Umstände einer natürlichen Ursache mit einem solchen Erfolg vermuthet, z.E. Wenn man vermuthet ob man werde einen heissen Sommer, oder einen harten Winter bekommen: ob man werde ein fruchtbares Jahr haben, oder nicht; diese aber, nehmlich die Moralische künfftige Begebenheiten, oder den theils zu hoffenden, theils zu besorgenden Erfolg menschlicher Thaten, schliesset man aus dem Zusammenhange der moralischen Ursachen, z.E. Ob die Heyrath werde glücklich ablauffen: Ob der Mensch in der Weltt
 
  {Sp. 1060}  
 
werde sein Glück bald machen: Ob man von dem andern dürffe betrogen werden, u.s.f.
 
 
In beyden kan der Schluß entweder Bejahungs- oder Verneinungs-Weise geschehen, daß man schliesset, es werde sich dieses zutragen:
 
 
2) Der Grund dieser Wahrscheinlichkeit beruhet auf der Übereinstimmung solcher Umstände, die von dem gegenwärtigen Zustande einer natürlichen oder moralischen Sache, sofern sie als eine Ursache angesehen wird, und ihre Krafft etwas hervor zu bringen hat, hergenommen werden. Insbesondere sind die Umstände, oder Phänomena, der natürlich-practischen Wahrscheinlichkeit, mit denen solche Hypothesis, wenn sie vermuthlich seyn soll, übereinstimmen muß, die Kräffte der gegenwärtigen Ursachen, wie sie einander in ihren Würckungen, auf unterschiedene Art, verstärcken, oder hindern.
 
 
Die Umstände der moralisch-practischen Wahrscheinlichkeit, durch deren Übereinstimmung dergleichen Erfolg vor vermuthlich zu achten ist, sind das gantze Systema eines Unternehmens, und die darinnen befindliche Klugheit, oder Thorheit, mit Zuziehung derer beylauffenden Glücks-Conjuncturen.
 
 
Bey der ersten Art der practischen Wahrscheinlichkeit, sind die Regeln der physicalischen, bey der andern hingegen, die Regeln der politischen Wahrscheinlichkeit, zu beobachten. Ferner sind die physicalischen, oder moralischen Dinge, aus deren gegenwärtigem Zustande wir ihren bevorstehenden Erfolg vorher sehen, entweder ausser unserer Gewalt, und also blosse Glücks-Begebenheiten; oder sie sind unserer willkührlichen Einrichtung anheim gegeben: dahero durch die practische Wahrscheinlichkeit theils die zu gewartenden Folgen des Glückes, theils auch die zu gewartenden Folgen der Klugheit, vorher zu sehen sind.
 
 
Man kan dahero sagen; daß diese Wahrscheinlichkeit gleichsam die Seele der Klugheit in allen Arten menschlicher Geschäffte sey, und daß auf derselben die wahrhaffte Gründlichkeit aller klugen Rathschläge beruhe. Ein Rathschlag ist ja nichts anders, als ein probabler Schluß, durch welchen derjenige, der einen gewissen Zweck zu erlangen wünschet, unter allerhand, durch das Ingenium ersonnenen, möglichen Mitteln, und unter allerhand möglichen Arten des Verfahrens mit denselben, zu demjenigen sich entschliesset, welches ihm, unter allem, am practicablesten zu seyn scheinet, das ist, aus welchem der gesuchte Zweck, als ein Effect, am wahrscheinlichsten zu gewarten seyn wird: welches alsdenn zu hoffen ist, wenn ein jeder Umstand, so wohl des Rathschlages selbst, als der beylauffenden Glücks-Conjuncturen, eine Grund Ursache ist, die, durch ihre Kräffte, zu Erlangung des gesuchten Zweckes, oder Effectes, etwas beytragen wird, so, daß in allen solchen Umständen zusammen eine zulängliche Krafft sey, mit Überwiegung der etwa mit unterlauffenden verhindernden Umstände, den gesuchten Effect hervor zu bringen.
 
 
Da bey der practischen Wahrscheinlichkeit
 
 
3) auch gewisse Grade statt finden, wie leicht aus dem obigen zu erkennen, so ist ein Rathschlag, in welchem diese Wahrscheinlichkeit in gar geringem Grade zu befinden, wenn er, aus allzufeuriger Hitze, dennoch ergriffen wird, ein verwegener, oder übereilter Rathschlag. Wenn, an statt der Wahrscheinlichkeit, eine blosse Möglichkeit des gesuchten Erfolges vorhanden ist, und man
 
  {Sp. 1061|S. 544}  
 
auf diese, als auf eine Wahrscheinlichkeit, hoffet; so ist er schon ein alberer Rathschlag. Ist der Erfolg gar unwahrscheinlich, so ist er noch um einen Grade thörichter. Ist endlich der gesuchte Erfolg gantz und gar unmöglich, so ist der Rathschlag in dem äussersten Grade närrisch und unsinnig.
 
 
Diejenigen demnach, die von der Wahrscheinlichkeit keinen Geschmack haben, verfallen in ihrem Rathschlagen, nachdem sie von Natur muthig, oder furchtsam sind, in einen zweyfachen Fehler: indem sie entweder den befundenen Grund guter Wahrscheinlichkeit vor einen Grund gäntzlicher Gewißheit ansehen, und dadurch in eine schädliche Sicherheit verfallen; Oder, bey Gewahrwerdung der Möglichkeit eines widrigen Erfolgs, wohl die besten Rathschläge, unter dem Vorwande, der Ungewißheit, als ungegründet verwerffen.
 
 
Dieses ist eine der fürnehmsten Ursachen desjenigen Fehlers, den weltkluge Leute an den meisten Gelehrten wahrgenommen haben, daß sie sich nehmlich, mit aller ihrer Gelehrsamkeit, zu politischen Geschäfften aus dermassen übel schicken: Weil nehmlich diejenigen unter ihnen, die in der Scharffsinnigkeit des Verstandes es am höchsten gebracht zu haben vermeynen, mit geometrischen, oder metaphysischen Demonstrationen gantz und gar eingenommen sind; Von der Wahrscheinlichkeit aber, als der Seele politischer Rathschläge, keinen Geschmack haben.
 
     
  VI. Von der gemeinen Wahrscheinlichkeit.  
  Es ist schließlich noch eine Art der Wahrscheinlichkeit, die man die gemeine Wahrscheinlichkeit (Probabilitatem vulgarem) nennen könnte, welche nicht auf eine Einsicht in das Wesen physicalischer und moralischer Dinge abzielet, sondern nur einigen Grund in sich hat, die Existentz derselben uns zur Noth glaublich zu machen. Sie beruhet theils auf die Erfahrung, theils auf die Auctorität. Denn wenn die Existentz einer Würckung durch öfftere Erfahrung bewähret wird, so ist zu vermuthen, daß solcher Effect auch in gegenwärtigem Falle existiren werde, wenn man gleich die Grund-Ursachen, und die Art und Weise, wie es damit zugehet, nicht einsehen kan.  
  Dasjenige also, was hier wahrscheinlich erkannt wird, oder die Hypothesis der gemeinen Wahrscheinlichkeit, ist allezeit die Existentz eines Effects; Die Umstände aber, durch deren Übereinstimmung sie wahrscheinlich wird, sind die beständigen Zeugnisse der Erfahrung, z.E. Man widerräth einem Menschen, jähling auf die Hitze zu trincken, weil man aus dem Grunde öffterer Erfahrung vermuthet, daß es ihm schädlich seyn möchte. Man vermuthet in dem Sommer, aus öffterer Erfahrung, daß es an einem Orte gedonnert haben möge, weil die Lufft jähling sehr kühle geworden ist. Man besorget, daß eine Person dieses, oder jenes Geheimniß, verrathen werde, weil man aus der Erfahrung weiß, daß sie alles auszuschwatzen pflege.  
  Gleiche Bewandniß hat es mit der Wahrscheinlichkeit die sich auf die Auctorität gründet. Wenn nehmlich die Existentz eines Effects von einem Kunsterfahrnen, der sattsame Proben seiner Geschicklichkeit an den Tag geleget hat, uns versichert wird, so sind die Proben seiner Kunsterfahrenheit die Umstände, aus deren Grunde ein anderer der Kunst unerfahrner die Aussage des Kunsterfahrnen billig vor glaublicher  
  {Sp. 1062}  
  hält, als was ihn selber, oder andern Unerfahrnen, etwa düncken möchte. Aus diesem Grunde, glauben wir, z.E. billig wenn von der Tödlichkeit einer Wunde Zweiffel vorfällt, der Aussage und Autorität der Ärtzte: Auf ihre Treu und Glauben nehmen wir die uns von ihnen gereichten Artzneyen, u.s.w.  
  Wir sagen, daß die gemeine Wahrscheinlichkeit die Existentz eines Effect uns zur Noth glaublich mache: Und wollen damit so viel sagen, daß ihr nur allein in dem Nothfalle zu trauen sey, wenn uns die gelehrte Wahrscheinlichkeit, dadurch wir das innerliche Wesen der Dinge nach ihren Grund-Ursachen einsehen können, abgehet: Welches dem gemeinen Manne, wie auch denen Gelehrten, oder Künstlern, in Sachen, die ausser ihrer Kunst sind, ja auch zuweilen denen Kunst-Erfahrnen selbst, in Dingen, deren innerstes noch durch keine Kunst genüglich hat erforschet werden können, öffters begegnet. Aus diesem Grunde hat, z.E. in Haußhaltungs Sachen die gemeine Wahrscheinlichkeit, die sich auf die blosse Erfahrung gründet, fast gäntzlich die Oberhand.  
  Doch ist gewiß, daß, sonderlich in natürlichen Dingen, keine Wahrscheinlichkeit betrüglicher sey, als eben diese, wie solches Rüdiger (de Sens. Ver. et Fal. …) sehr wohl ausgeführet hat. Dahero ist es ein grosser Fehler, mit derselben zufrieden seyn wo, durch eine gründliche gelehrte Wahrscheinlichkeit, das innere Wesen der Dinge so gar unerforschlich nicht ist: Denn in diesem Fall, ist der Vernunfft gemäß, die gelehrte Wahrscheinlichkeit mit der gemeinen zu verbinden und diese, durch jene, auf einen sichern Grund zu setzen: Ob wohl auch dieses nicht zu leugnen ist, daß, wenn hingegen die Hypotheses der Gelehrten nicht gründlich sind, (welches insgemein geschiehet, wenn ein vermeyneter Künstler in den Regeln der Wahrscheinlichkeit übel erfahren ist) man mit der gemeinen Wahrscheinlichkeit, durch die Erfahrung, oder mit einem Manne, der in derselben wohl geübet ist, tausendmahl besser fahre, als mit einem närrischen Raisonneur.
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    Vor allen verdienet des berühmten Herrn Prof. Ludwig Martin Kahlens Elementa Logicae Probabilium (Halle 1735 in 8) von der Wahrscheinlichkeit nachgelesen zu werden, wel-
  {Sp. 1063|S. 545}  
    cher diese Materie so vollständig als gründlich vorgetragen.
   

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HIS-Data 5028-52-1020-7-04: Zedler: Wahrscheinlichkeit [4] HIS-Data Home
Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries