HIS-Data
Home | Suche
Zedler: Weisheit [2] HIS-Data
5028-54-1114-8-02
Titel: Weisheit [2]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 54 Sp. 1114
Jahr: 1747
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 54 S. 570
Vorheriger Artikel: Weisheit [1]
Folgender Artikel: Weisheit [3]
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel

vorhergehender Text  Teil 1 Artikelübersicht Teil 3  Fortsetzung

  Text  
  Philosophische Abhandlung der Weisheit im engerm oder eigentlichem Verstande,  
  da sie nemlich, wie oben schon erinnert worden, derjenige Zustand der menschl. Seele ist, da ein Mensch nicht nur das Gute u. Böse von einander unterscheiden kan, sondern auch eine Begierde zum Guten, und einen Abscheu vor das Böse hat. Hier haben wir zwey Stücke zu untersuchen, erstlich was eigentlich zu der Weisheit gehöret? und wie selbige von andern Geschicklichkeiten der Seelen unterschieden sey? Was nun die erstere Frage:  
  Was eigentlich zu der Weisheit gehöret?  
  anlanget, so ist sie weder eine Geschicklichkeit des Verstandes, noch des Willens allein; sondern es wird dazu ein gantzes Gemüth, das durch sie gebessert sey, erfordert.  
  Wir wollen die Wahrheit dieses Satzes aus ihren Gründen herleiten. Wir finden, durch die Erfahrung, an dem Menschen, als einem vernünftigen Geschöpffe, diese merckwürdige Eigenschafft, daß ein grosser Theil der Fähigkeiten, die GOtt u. Natur ihm verliehen, seinem vernünfftigen Gutbefinden und willkührlichen Gebrauche anheim gegeben ist: dergleichen wir hingegen an andern Vernunfft- u. leblosen Geschöpffen, wenn wir sie mit rechter Aufmercksamkeit betrachten, keinesweges gewahr werden. An den leblosen Geschöpffen ist gewiß, daß wir gar keine Freyheit, sondern lauter natürliche Nothwendigkeit in allen ihren Bewegungen, gewahr werden.  
  Die belebten Vernunftlosen Geschöpffe hingegen, nemlich die Bestien, haben zwar eine Freyheit, aber eine blos natürliche, welche darinnen bestehet, daß sie das, was sie thun, zwar auch lassen, um was sie lassen, auch thun können, nachdem die mit Em-  
  {Sp. 1125|S. 576}  
  pfindung der Objecte verbundene Lust, oder Unlust, oder die davon in dem Gedächtniß überbliebene Idee, das eine, oder das andere, nach sich ziehet; aber doch beydes durch eine natürliche Nothwendigkeit, also nemlich, daß aus der Empfindung des einen Objects das Thun, aus der Empfindung des andern das Lassen, nothwendig erfolget: Indem die Bestien der Vernunfft beraubet sind, in deren Ermangelung keine Grund-Ursache vorhanden ist, warum sie denen durch die Annehmlichkeit, eines Objects in ihnen erweckten Regungen nicht nachgehen sollten. Sie gehen also solchen Regungen allezeit durch eine natürliche Nothwendigkeit nach, dergestalt, daß, ob sie gleich, nach dem Unterschiede der Empfindungen der ihnen vorkommenden Dinge, das, was sie thun, auch lassen können, dennoch aus der einen Empfindung das Thun, aus der andern das Lassen, durch eine natürliche Nothwendigkeit unausbleiblich erfolget.  
  Der Mensch hat diese natürliche Freyheit auch; er kann das, was er thut, auch lassen, und was er lässet, auch thun: Aber keines von beyden, nemlich wieder das Thun, noch das Lassen muß in ihm, bey Empfindung je eines Objects, durch eine natürliche Nothwendigkeit, wie in den Bestien, geschehen. Denn der Mensch ist mit Vernunfft begabet: Und diese empfindet, und stellet sich vor, nicht allein das Gegenwärtige, sondern auch, was, durch eine offt lange Reyhe der Folgerungen, aus dem Gegenwärtigen erfolgen werde. Also kan, auch bey einerley Gegenstande, ein Mensch, nach dem Unterschiede seiner Vernunfft-Schlüsse, die seinem freyen Urtheile anheim gegeben sind, etwas eben so leicht zu thun, als zu lassen, Ursach zu haben glauben, ohne, daß er zu einem von beyden, durch die Empfindung und Vorstellung des Gegenwärtigen, nothwendig getrieben werden solte. Und dieses also ist eine gantz andere Art der Freyheit, als jene blos natürlichen, die auch den Bestien gegeben ist, und ungeachtet welcher dennoch alles, was die Bestien thun, oder lassen, durch eine natürliche Nothwendigkeit in ihnen geschiehet.  
  Die Freyheit der Menschen ist eine nicht blos natürliche, sondern eine moralische, welche allererst eine wahrhaffte Freyheit ist, die demjenigen, was durch natürliche Nothwendigkeit geschiehet, entgegen gesetzet ist, vermöge deren der Mensch seines eigenen Thuns und Lassens wahrhafftig Meister zu seyn fähig ist, welches man weder von den leblosen, noch von den lebendigen Vernunfftlosen Geschöpffen, sagen kann. Weil nun solchergestalt vernünfftig ermessene und wahrhafftig freye und willkührlich erlesene Thaten dem Menschen eigen sind: Alle dergleichen Thaten aber nothwendig auf einen zuvor, offt nach einer langen Reyhe der Folgerungen, bedachten Zweck gerichtet sind, als wodurch sie eben zu menschlichen Thaten werden: So ist folglich die wesentlichste Eigenschafft des Menschen, als eines vernünfftig freyen Geschöpffes, die Fähigkeit, seine willkührlichen Thaten auf einen zuvor bedachten Zweck zu richten.  
  Aller Zweck der Menschen läuffet, wo nicht unmittelbar, dennoch endlich in seinen Folgerungen, auf einen Genuß des Guten hinaus. Das Gute geniessen; heisset nichts anders, als daß Gute mit Anmuth empfinden,  
  {Sp. 1126}  
  dergestalt, daß man dabey des Guten so wohl, als der Annehmlichkeit der Empfindung desselben, sich bewust, und das Gemüth in sich selbst darüber fröhlich und zufrieden sey. Es ist also eine nicht weniger wesentliche Eigenschafft des Menschen, daß er einen Zweck seiner Thaten nicht allein willkührlich bestimmen und suchen, sondern auch, wenn er ihn nun erhalten hat, geniessen kan.  
  Die würckliche Erlangung und der Genuß alles desjenigen Guten, dessen der Mensch in diesem Leben fähig ist, heisset seine Glückseligkeit. Ja, wir wissen nicht allein aus der Göttlichen Offenbahrung, sondern wir können auch aus nicht zu verachtenden Gründen der Vernunfft schliessen, daß die menschlichen Seelen unsterblich sind, und daß in solchem Zustande ihrer Unsterblichkeit ihnen eine ewige Seeligkeit bevorstehe. Derowegen ist der allgemeine und letzte Zweck, den alle Menschen begierig suchen, die Glückseligkeit dieses, und die Seligkeit des Zukünfftigen Lebens. Dieser Zweck ist denen Menschen so wesentlich, als ihnen die Sinne sind. Es wäre in Ansehung der sinnlichen Empfindung widernatürlich, daß der Mensch das Angenehme, in sofern es angenehm, nicht mit Lust, und das Unangenehme, in so fern es unangenehm ist, nicht mit Unlust empfinden solte, ferner, daß er Lust nicht suchen, Unlust nicht fliehen solte.  
  Zwar kan der Mensch auch bey Empfindung des Angenehmen unvergnügt, und bey Empfindung deß Unangenehmen vergnügt seyn: Allein jenes Unvergnügen entstehet nicht über das Annehmliche, in sofern es annehmlich, und dieses Vergnügen nicht über das Unannehmliche, in sofern es unannehmlich ist; sondern man ist bey dem Annehmlichen traurig und unvergnügt, in Ansehung des damit verbundenen, oder daraus besorgten Unannehmlichen; und bey dem Unannehmlichen ist man gutes Muthes und vergnügt, wegen der daraus zu hoffenden grössern Annehmlichkeit, wie etwa Jacob, bey seiner 14jährigen schwehren Dienstbarkeit, um seiner Rahel willen, vergnügt war.  
  Da nun alle willkührliche Thaten des Menschen natürlicher Weise auf einem Zweck gerichtet sind, aller Zweck aber zuletzt auf den Genuß eines Guten, und folglich auf eine sinnliche Empfindung hinaus läufft; und in den Empfindungen der Sinne ein jeder natürlicher Weise Lust suchet, und Unlust fliehet; so ist folglich der wesentlichste und letzte Zweck der Menschen, daß sie, soviel möglich, lauter Lust, das ist, in diesem Leben ihre Glückseligkeit in jenem ihre Seligkeit suchen.  
  Ein Zweck kan natürlicher Weise ohne Mittel nicht erlanget werden; nemlich eben so wenig, als natürlicher Weise ein Effect ohne vorhergehende würckende Ursache entstehen kan; inmaßen ein Zweck nichts anders, als eine in dem Gemüthe vorherbestimmte Würckung des Mittels ist: Folglich ist auch dieses der Natur des Menschen gemäß, daß er den Zweck seiner Glückseligkeit nicht unmittelbar erhalten kan, sondern durch Mittel selbigen suchen und erhalten muß. Denn ein Mittel ist nichts anders, als eine würckende Ursache, in sofern der Mensch sich deren willkührlich bedienet: Und der  
  {Sp. 1127|S. 577}  
  Zweck ist der Effect, oder die Würckung, die solche willkührlich gebrauchte und gerichtete würckende Ursache, nach des Menschen Absicht, hervorbringen soll.  
  Nun kan, weil natürlicher Weise aus nichts nichts werden kan, kein Effect ohne seine Grund-Ursache werden, oder entstehen: Also kan natürlicher Weise auch kein Zweck ohne seine Mittel erlanget werden. Diese wesentliche Beschaffenheit der Menschen, vermöge deren sie, als wahrhafftig freye Geschöpffe, einen bestimmten Zweck, durch willkührlichen Gebrauch dienlicher Mittel, zu verlangen, und wenn sie ihn nun erhalten haben, von Natur tüchtig und geneigt sind, wird das moralische Wesen, oder die moralische Natur des Menschen, genennet. Derowegen ist das moralische Wesen des Menschen nicht anders, als das Wesen, oder die Kräffte des Menschen, soweit deren Gebrauch dem freyen Ermessen und den willkührlichen Entschliessungen des Menschen anheim gegeben ist, damit er sich in Ansehung derselben gewisse Zwecke vorsetzen, durch freye Erlesung der Mittel solche Zwecke zu erlangen sich bemühen, und endlich die erlangten mit Vergnügen genüssen möge.  
  Dieses moralische Wesen ist dem physicalischen Wesen des Menschen entgegen gesetzet, welches in denen sich selbst gelassenen Kräfften desselben bestehet, insofern sie seinem freyen Gebrauche nicht unterworffen sind, sondern ihre Würckungen durch sich selbst , ohne willkührliches Zuthun des Menschen, hervorbringen: Da hingegen das moralische Wesen desselben in einer Fähigkeit beruhet, diejenigen natürlichen Kräffte, die seinem freyen Gebrauche unterworffen sind, willkührlich anzuwenden, und sie solchergestalt zu Mitteln, die Würckungen aber derselben, insofern er sie ebenfalls willkührlich vorher bestimmet und hervor zu bringen suchet, zu seinem Zwecke zu machen.  
  Demnach, gleichwie das natürliche Wesen des Menschen auf sich selbst gelassenen natürlichen Würckungen und ihren Grund-Ursachen beruhet: Also beruhet hingegen das moralische Wesen desselben auf einer Fähigkeit, die würckenden Kräffte der Natur als Mittel willkührlich anzuwenden, und deren Würckungen als einen abgezielten Zweck zu erlangen. Es ist dahero der Mensch von andern Vernunfft- und Leblosen Geschöpffen fürnehmlich hierinnen wesentlich unterschieden, daß er mit einer zweyfachen Natur, nemlich einer physicalischen und moralischen, begabet ist: Da hingegen die Natur anderer Geschöpffe blos physicalisch ist.  
  Dieses ist der Grund, aus welchem der Mensch allein, und nicht auch das Vieh, oder ein lebloses Geschöpffe, einer Richtschnur seiner Thaten, nemlich eines Gesetzes und der Regeln der Klugheit, fähig ist. Denn so wohl Gesetze, als Regeln der Klugheit, setzen ein Subject von wahrhafftig freyem moralischen Wesen voraus, das, bey einerley empfundenem Gegenstande, das, was es thut, auch lassen, und was es lässet, auch thun könne. Es ist  
  {Sp. 1128}  
  vergeblich, einem Dinge Regeln, wie es handeln, oder würcken, und nicht würcken solle, vorschreiben, das so, wie es würcket, durch eine Nothwendigkeit seiner Natur würcket, und ohnmöglich anders kan.  
  Das gantze menschliche Wesen, das moralische so wohl, als das natürliche, hat von GOtt seinen Ursprung. Folglich ist es der Ordnung GOttes gemäß, daß der Mensch, seiner moralischen Natur nach, daß Gute mit Lust, das Böse mit Unlust empfinde; jenes also, als seinen Zweck, nebst denen darzu dienlichen Mitteln, begehre, dieses, als das Gegentheil seines Zweckes, fliehe; und endlich, daß er das Gute und Böse, nebst denen Mitteln, das Gute zu erlangen, das Böse zu vermeiden, wisse und erkenne: Indem der Mensch natürlicher Weise weder einen Zweck willkührlich begehren noch ein Mittel willkührlich anwenden kan, wenn er es nicht vorher erkennet.  
  Auf diese drey Stücke, nemlich  
 
  • erstlich, auf die Erkänntniß der Dinge,
  • zweytens, aus dem Grunde solcher Erkänntniß auf die Einrichtung unserer Zwecke, und derer darzu dienlichen Mittel, und also auf die vernünfftige Begierde des wahren Guten,
  • drittens, auf den Genuß des nun erlangten Guten,
 
  kommt alle Beschäfftigung eines jeden Menschen in seinem gantzen Leben an: Und dieses vermöge der moralischen Natur des Menschen, folglich nach GOttes Ordnung.  
  Und zwar ist, in einer richtig an einander hangenden Ordnung, immer eines dieser dreyen Stücke um des andern willen. Die Erkänntniß der Dinge ist um der Zwecke willen, die wir uns in Ansehung derselben vorzusetzen haben, und also um des zu begehrenden Guten willen. Die Begierde aber des Guten, und die deshalber mit den Mitteln unternommene Bemühung, ist um der Erlangung und des Genusses willen, mit dessen Annehmlichkeit der Mensch vollkommen vergnügt, oder doch zu frieden seyn soll.  
  GOtt hat derowegen den Menschen zu der Freude und Zufriedenheit, und nicht zu der Traurigkeit und Unzufriedenheit, erschaffen: Und das verdummende melancholische Wesen und traurige Kopffhängen, welches die Heuchler affectiren, ist wider die Natur, und wider die Göttliche Ordnung in derselben. Zwar ist auch aus dem Grunde der Empfindung des Bösen, eine vernünfftige Traurigkeit: Allein, gleichwie GOtt kein Böses in der Welt um des Bösen, sondern allezeit um eines grössern Guten willen, zulässet: Also ist alle wahrhafftig vernünfftige Traurigkeit um der Abwendung des Bösen, und also um der Freude willen. Derjenige dahero ist ein Narr, der in dem Bösen verzaget, das ist, dergestalt traurig ist, daß er bey der Traurigkeit, gleich als ob sie das Ende aller Dinge wäre, bewenden lässet.  
  Ein Weiser ist zuweilen traurig: Aber um des nur jetzo angeführten Zweckes willen, und also nur auf eine Zeit lang. Leichtsinnigen Leuten, als Kindern und bösen Buben, die dieser weisen Traurigkeit von sich selbst nicht fähig sind, pfleget man sie zu ihrer Besserung, durch Zucht und Straffe beyzubringen, deren es bey einem Weisen nicht bedarff. GOtt hat also das menschliche Gemüth, damit es die Natur  
  {Sp. 1129|S. 578}  
  der Dinge, und daraus den ihm vorgesetzten Zweck, erkennen, und die zu dessen Erlangung dienlichen Mittel erfinden könne, mit einem vernünfftigen Verstande; Ferner, damit es solchen Zweck und dessen Mittel begehren, das Gegentheil aber fliehen und verhüten könne, mit einem der Vernunfft unterworffenen Willen; Und endlich, daß es das nun erlangte Gute mit Anmuth und Lust empfinden und geniessen könne, mit Sinnen, (welche also allhier in moralischem Verstande genommen werden) begabet.  
  Verstand und Wille nun sind, wie GOtt und Natur sie dem Menschen mittheilet, Fähigkeiten, welche dem freyen und willkührlichen Gebrauche desselben überlassen sind. Alle natürliche Fähigkeiten, die unserm freyen, oder willkührlichen Gebrauche, anheim gegeben sind, können wir, (eben deswegen, weil sie unserm freyen Gebrauche unterworffen sind) nicht allein wohl, sondern auch übel gebrauchen. Ja der übele, oder unrechte Gebrauch derselben, ist uns nach dem Sünden-Falle von der Natur weit leichter und geläuffiger, als der gute.  
  Dahero müssen wir die Kräffte unsers Verstandes, unsers Willens, und unserer Sinne, keinesweges in ihrem blos natürlichen Zustande lassen. Denn von Natur sind alle obgedachte Kräffte, wie gedacht, blosse Fähigkeiten, die wir, vermöge unserer moralischen Natur, so wohl gut, als übel, ja weit leichter übel, als gut und recht, gebrauchen können. In diesem Zustande aber können sie kein zulängliches Mittel zu dem uns vorgesetzten Zwecke seyn, als welcher unsre Glückseligkeit ist, welche ihre eigene und besondere Mittel erfordert, und also keinesweges auf alle Art und Weise, wie wir etwa die Fähigkeiten unserer Natur brauchen möchten, oder mißbrauchen wollen, zu erlangen ist.  
  Die Sinne gebrauchen wir recht und wohl, wenn wir sie angewöhnen, sich nur an den wahren Guten zu belustigen: Denn daß wir unsere Sinne, in Ansehung ihrer Belustigungen, unterschiedlich gewöhnen können, lehret die Erfahrung. Den Willen brauchen wir recht, wenn wir ihn zu der Begierde des wahren Guten, und Verabscheuung des Bösen, gewöhnen. Den Verstand gebrauchen wir recht, wenn wir eine Fertigkeit, die Wahrheit zu erkennen, erlangen. Wir sagen, auf Seiten des Verstandes müsse man sich in dem Stande befinden, das Gute von dem Bösen zu unterscheiden, und also, krafft des Judicii, wie weit eine Sache entweder zu unserer Glückseligkeit oder Unglückseligkeit etwas beytrage.  
  Doch diese Erkenntniß allein macht die Weisheit nicht aus, indem man dergleichen auch bey Leuten findet, welche gleichwohl in ihren Handlungen thöricht und unweislich sich aufführen. Um deswegen muß auch eine gewisse Beschaffenheit des menschlichen Willens hinzu kommen, daß man an der wahren Erkänntniß des Guten und Bösen einen moralischen Geschmack habe, welcher darauf ankommt, wenn man nach dem Guten eine Begierde und vor dem Bösen einen  
  {Sp. 1130}  
  Abscheu hat. Ist beydes beysammen, so entsteht daraus die Weisheit, welche an sich selbst als eine innerliche Beschaffenheit der Seelen anzusehen, die sich aber äusserlich durch die würckliche Handlungen zu erkennen giebt, daß man zum Exempel sagt: man habe weislich daran gethan, man habe sich sehr weislich dabey aufgeführet: Zum Exempel, wenn ein Mensch erkennet, daß die Trunckenheit ein überaus schädliches Laster, wodurch man seine Gesundheit so wohl, als Ehre in grosse Gefahr setzet; die Nüchternheit hingegen etwas Gutes, dadurch man seine Gesundheit und Ehre erhalten kan; auch dabey in seinem Willen einen solchen Abscheu vor der Trunckenheit, und eine Neigung vor die Nüchternheit hat, daß wenn man ihm gleich, sich truncken zu trincken Gelegenheit giebt, er sich dennoch davor hütet, so beweiset er dadurch eine Weisheit, und man siehet seine Aufführung für weislich an.  
  Aus dieser gegebenen Erklärung können wir sehen, daß nicht eine jede wahre Erkänntniß zur Weisheit gehöre; sondern nur diejenige, welche mit Moralischen Dingen, die entweder gut, oder böse seyn müssen, beschäfftiget ist: weil sie aber gleichwohl wahr seyn muß, so erhellet weiter hieraus, daß derjenige, der den Ruhm eines weisen Mannes erlangen will, den Unterscheid unter den wahren und Schein-Gütern wohl verstehen müsse. Weisheit suchet das Gute; aber nur dasjenige, welches einen wahrhafftig glücklich machet. Die Thorheit strebt auch allezeit nach einem Gut; weil man aber das wahrhafftige nicht erwählet, und aus Irrthum und aus Affecten etwas vor gut hält, so in der That nicht gut ist, so macht man sich dadurch unglücklich, und legt eine Probe der Narrheit ab.  
  Nicht weniger sehen wir daraus, wie sich bey der Weisheit der Wille von einem gesunden Verstande muß regieren lassen, und weil sich sonsten derselbige durch die Heftigkeit der Neigungen, oder Affecten dessen Vorstellungen widersetzet, so können bey einem weisen Manne solche hefftige Bewegungen die Herrschafft nicht haben. Es ist also nöthig, daß wir die Kräffte des Verstandes, des Willens, und der Sinne, durch Regeln und Übung dergestalt auszuarbeiten uns bemühen, daß daher eine fertige Geschicklichkeit, jede der gedachten Fähigkeiten des Gemüths, soviel möglich, allezeit recht zu gebrauchen, erwachsen möge.  
  Der Mensch ist also, weil er, vermöge seiner moralischen Natur, seine natürlichen Kräffte nicht in ihrem natürlichen Zustande lassen soll, darzu gebohren, daß er sie vernünfftig ausarbeiten, sich also theils selber ziehen, theils von andern verständigern und schon wohlgezogenen Leuten wohl gezogen werden soll. Denn da, wie gedacht, alle obbemeldete Fähigkeiten von uns wohl, oder übel, gebrauchet werden können; Das menschliche Gemüth aber mit einem vernünfftigen Verstande, krafft dessen es das, was gut und recht ist, zu erkennen vermag, von GOtt begabet ist; So muß nothwendig, durch gewisse Vernunfftmäßige Regeln bestimmet wer-  
  {Sp. 1131|S. 579}  
  den können, welcher Gebrauch unserer Fähigkeiten recht, oder unrecht sey. Es muß auch nothwendig dem Willen GOttes gemäß seyn, daß der Mensch in würcklicher Erforschung solcher Regeln sorgfältig sey. Die fleißige Übung aber solcher Regeln muß deswegen darzu kommen, damit man den rechten Gebrauch einer jeden Fähigkeit, welcher eben durch die Regeln angezeiget wird, sich sattsam angewöhnen, und also eine fertige Geschicklichkeit erlangen möge. Solchergestalt werden drey Haupt-Geschicklichkeiten, mit welchen das menschliche Gemüth auszurüsten ist, erwachsen:  
 
  • Erstlich, in Ansehung der Sinne, ein guter Geschmack in moralischem Verstande, (Sensus boni) das ist, eine fertige Geschicklichkeit, sich nur an dem wahren Guten zu belustigen, und nur vor dem wahren Bösen sich eckeln zu lassen.
  • Zweytens, in Ansehung des Willens, die Tugend, oder Geschicklichkeit, daß Gute zu begehren.
  • Drittens, in Ansehung des Verstandes, die Geschicklichkeit, Wahrheit zu erkennen, (Sensus veri.)
 
  Wer den guten Geschmack in moralischem Verstande mit zu der Tugend rechnen, und also nur zwey Haupt-Geschicklichkeiten des menschlichen Gemüthes zulassen will, dem wollen wir eben nicht viel widersprechen. Die Ursache aber, warum wir sie von einander unterschieden haben, ist, weil der gute Geschmack eine den Sinnen, die Tugend aber eine dem Willen, angewöhnete Geschicklichkeit ist: Gleichwie, aus gleichmäßigen Ursachen, auch die Geschicklichkeiten des Verstandes und Willens einander entgegen gesetzet werden. Die Verbindung dieser drey Haupt-Geschicklichkeiten des Gemüths, als welche alle übrigen unter dem Bezirck ihrer Allgemeinheit begreiffen, wird, mit einem Worte, Weisheit, und ein Gemüth; das mit selbigen ausgerüstet ist, ein weises Gemüth, genennet.  
     

vorhergehender Text  Teil 1 Artikelübersicht Teil 3  Fortsetzung

HIS-Data 5028-54-1114-8-02: Zedler: Weisheit [2] HIS-Data Home
Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries